Full text: Arbeiter-Jugend - 18.1926 (18)

226 “ Arbeiter-Jugend 
ſpekuliert, die namentlich durch den beſonderen Einfluß der Großſtadt in einer typiſch 
radikalen, aber jeder politiſchen Richtung und jedes politiſchen Willens entbehrenden 
Gtimmung gehalten werden, nicht um ſie politiſch zu verwerten, ſondern um wirk» 
liches politiſches Handeln im Staate zu ſabotieren. 
Dieſe Aufgabe erſordert aber auch das Innehalten der Grenze gegen ſeichten, poli- 
tiſch ungerichteten Opportunismus*). Die relative Gleichgewichtslage der Parteien 
in der deutſchen Republik hat es mit ſich gebracht, daß ſich die Kräfte in Parlament 
und Regierung nahezu gleichſtehen. Das parlamentariſche Kompromiß und die 
Koalitionsregierung ſind der Ausdruck dafür. Es liegt darin eine Verſuchung, das, 
was Ausdruck des Kräſteverhältniſſes von heute iſt, als für immer notwendig mit 
dem parlamentariſch-demokratiſchen Syſtem verknüpft anzuſehen. Daraus ergibt ſich 
leicht eine Herabminderung Des politiſchen Wollens, ein Zug, in allen Fragen die 
großen Unterſchiede verwaſchen zu laſſen und alles auf dem Wege des Feilſchens zu 
erledigen. Die Erfahrung eines Kampfes, der um entſcheidend große Fragen geführt 
wird, haben vir in den letzten Jahren nicht durchgemacht. Die deutſche parlamenta- 
riſche Demokratie muß ſich erſt einſpielen und die parlamentariſchen Führer müſſen erſt 
lernen, daß zur Handhabung der politiſchen Mechanik nicht nur idie Bereitſchaft zum 
Kompromiß gehört, ſondern ebenſo gut der entſchloſſene Wille zum Hartbleiben, zum 
Abſoluten in großen Fragen. . 
Was haben wir getan zur ſtaatsbürgerlichen Erziehung im Geiſte der Demo» 
kratie? Wo iſt die idemokratiſch-politiſche Literatur in Deutſchland? Was haben wir 
getan, um die Methoden ber Regierung des Staates, die Methoden der Verwaltung, 
vor dem ganzen Volke des geheimen Charakters zu entkleiden, den ſie aus den Zeiten 
des Obrigkeitsſtaates her tragen und der eines der ſtärkſten Mittel der Herrſchafts- 
behauptung privilegierter Klaſſen über das Volk war? Was haben wir getan, um 
im Volke, und vor allem in der deutſchen Arbeiterſchaft, Wiſſen über das Weſen und 
die Funktion der politiſchen Mechanik zu verbreiten? Gewiß ſind wir auch auf dieſem 
Gebiete belaſtet durch Traditionen, denen das unerhebliche Probleme waren, gewiß 
jind wir materiell gehemmt durch die allgemeine Not, --- aber ſind wir nicht auch 
dadurch gehemmt, daß wir über der Tatſache des Kampfes von Kollektivperſönlich»- 
keiten und des ſcheinbar geſeßmäßigen Ablaufs dieſes Kampfes die Bedeutung der 
Geſinnung und der Denkweiſe des einzelnen überſehen und unterſchätzen? 
Wo iſt die ſozialiſtiſche Wiſſenſchaft, die den Erfahrungskomplexen nachforſcht, 
die mit dem Uebergang Deutſchlands zum Syſtem der parlamentariſchen Demokratie, 
mit dem Uebergang der deutſchen Sozialdemokratie zur Staatspartei entſtanden ſind? 
Der Ruf nach geiſtiger Führung iſt nur zu berechtigt. Er wendet ſich nicht nur 
an die politiſche Führung, nicht nur an die Drganiſation, nicht nur an die Preſſe -- 
ſie allein können die großen Aufgaben nicht löſen, die hier zu erfüllen ſind. Er iſt 
eine Mahnung an alle anonymen Kräfte unter uns, die ſich berufen fühlen, an dieſen 
Aufgaben mitzuarbeiten. Er iſt ein Ruf an die neue Generation, ernſthaft an ſich 
jelbſt zu arbeiten. 
Es iſt die Aufgabe der politiſchen Erziehung, den Maſſen zu lehren, daß die 
Demokratie ihnen Macht gibt und wie dieſe Macht zu benußen iſt. Die Lehre von 
den Zuſammenhängen des politiſchen Handelns muß ſie von dem Albdru>k über- 
mächtiger Kollektivperſönlichkeiten befreien, denen gegenüber ſie ſich verloren glauben, 
Sie müſſen verſtehen lernen, daß und auf welchem Wege ihr Wille ein Teil des 
Staatswillens iſt. Sie müſſen verſtehen, daß politiſche Führung für ſie nicht Ent» 
*) Opportunismus-Politik, die ſich nac den Gelegenheiten richtet --- „heute ſo, morgen ſo“.
	        
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