Arbeiter-Jugend 267
eben mit dem Gedanken abfinden, daß Gott von Zeit zu Zeit einen Wutanfall
beiam, ſeine Schöpfung in Stücke ſchlug und dann nach neuen Modellen wieder
von vorn anſing.
Trozz der großen Autorität Cuviers vermochten ſich ſeine Anſchauungen nicht
allgemein durchzuſetzen; die offenbare allmähliche Entwieklung der Tier- und
Pflanzenwelt fand durch die Kataſtrophentheorie keine Stüße, die aufeinander
ſolgenden Tierwelten mußten auf andere Art zuſtande gekommen ſein. Und in der
Tat beſtand ſchon zu Cuviers Zeit unter den Gelehrten eine Strömung entwi>klungs-
geſchichtlicher Art, zu deren Vertretern auch der Großvater des eigentlichen Be-
gründers der Deſzendenz(Eniwi>lungs-)theorie, Erasmus Darwin, gehörte. In
Deutſchland waren es namentlich Goethe und der IRaturforſcher Oken, die den ent-
widälungsgeſchichllichen Standpunkt vertraten, während in Frankreich gleich drei
damals hochgeachtete Naturforſcher auf den Plan traten: Buffon*), Geoffroy de
St. Hilaire**) und Lamar>. GEeofſroy de St. Hilaire und Goethe zeigten manche
Aehnlichkeit in ihren Anſchauungen; beide ſtellten die große Vebereinſtimmung der
Tiere in Vau und. Enſwicklungsweiſe in den Vordergrund und deuteten ſie als
Folge gemeinſamer Abſtammung. Allerdings hatte ſchon der große Philoſoph Kant
eine jolche Möglichkeit erörtert, ſie aver ſchließlich als zu kühnes Wagnis der
Vernunft bezeichnet.
- Im erjten Gang des Geiſterkampfes ſiegle Cuvier vermöge ſeiner gewaltigen
wiſſenſchaftlichen Autorität; ſeine „Kataklysmentheorie"***) fand in der Pariſer
Akademie, wo der Disput zum Austrag kam, allgemein? Annahme. Sein früherer
Vreund und Beſchüßer Geoffroy de St. Hilaire, der ſich inzwiſchen in ſeinen
Gegner verwandelt hatte, unterlag auf der ganzen Linie. Aehnliches ereignete ſich
in Deutſchland; hier war die Abſtammungslehre zu eng mit der damals herrſchenden
romantiſchen Naturphiloſophie verknüpft, und als dieſe Richtung den Boden der
Tatſachen verließ und ſich in wilden und phantaſtiſchen Spekulationen gefiel, wurde
ſie abgelehnt und riß die deſzendenziheoretiſchen Gedankengänge mit in ihren Unter-
gang. Die Entwiclungslehre verſchwand damals ſo gänglich von der Bildfläche,
daß, als Darwin ſein epochemachendes Werk üver den Urſprung der Arten ver-
öffentlichte, die meiſten Biologen, wie Richard Hertwig berichtet, das Gefühl hatten,
völlig neuen Jdeen gegenüberzuſtehen.
Das wichtigſte Moment in ber Beweisführung Lamarc>s zugunſten der Ums-
wandlung der Arten beſteht in der Anerkennung äußerer Einflüſſe als Erzeuger
von Formveränderungen; beſonders betonte Lamar> den Einſluß von Uebung und
Nichtübung. Die Giraffen ſollen nach ihm lange Hälſe bekommen haben, weil ſie
vurch beſondere Lebensbedingungen gezwungen waren, ſich zu ſtre>en, um hoch»
belaubte Bäume abzuweiden; umgekehrt hätten ſich die Augen der im Dunklen
wohnenden Tiere aus mangelndem Gebrauch zu funktionsloſen (rudimentären)
Organen zurückgebildet. Dagegen entwickelten fich bei dieſen heſonders die Taſt=-
apparate, weil ſie dem Tier einen Erſatz für den mangelnden Lichtſinn verſchaffen
müſſen und daher ſtark in Anſpruch genommen werden. Da nun die Lebens-
bedingungen auf der Erde einem beſtändigen Wechſel unterworfen ſind, mußte auch
ver Bau. der Tiere eine allmähliche Umwandlung erfahren.
In demſelben Jahr, in vem Cuvier in Paris der Entwiclungslehre ſcheinbar
den Todesſtoß verſeßzte, begann die Veröffentlichung eines Werkes, das dazu be-
itimmt war, die Cuvierſche Theorie zu ſtürzen: der „Prinzipien der Geologie“ des
Seittenaeneunens damned
*) ſprich büſſong; **) ſprich ſc<oſfroa dö ſähnt ilähr; ***) Kataklysma, griech. == Veber-
ichwemmung, Sintfflut. . .