Full text: Arbeiter-Jugend - 18.1926 (18)

332 Arbeiter-Jugend . 
den großen „Kladderadatſch“ bringen ſoll. Der Hinweis auf dieſen Tag des Zornes 
läßt die Augen der Proletarier heller leuchten, und darum finden wir noch heute in 
den ſozialen Gedichten dieſen Hinweis immer wieder, ein Beiſpiel für die Langſam» 
keit, mit der ſich das ſoziale Bewußtſein umwandelt. Es iſt ja bekannt, daß alle 
ſozialiſtiſchen Führer der neueren Zeit eine gewaltſame Revolution abgelehnt haben, 
daß ſie vielmehr in der allmählichen Umgeſtaltung der Wirtſchafts= und Geſellſchafts» 
jorm iden Weg zum Sozialismus erbliken. Die Kataſtrophentheorie iſt über Bord 
geworjen, und wenn wir heute von der Revolution ſprechen, ſo verſtehen wir dar- 
unter die Evolution, die allmähliche Entwicklung. Dennoch aber hängt das 
Proletariat in ſeinen unentwickelten Schichten noch heute mit ſchwärmeriſcher Be» 
geiſterung an -der Vorſtellung von einer Revolution, die im Handumdrehen den 
Zutunftsſtaat ſchaffen werde. Es gibt noch heute Leute, die da meinen, man könne 
als Bürger eines kapitaliſtiſchen Staates abends zu Bett gehen und am andern 
Morgen als Bürger eines ſozialiſtiſchen Staates wieder aufſtehen. Sie haben keine 
Ahnung davon, daß die Menſchheit ſich jeden Fußbreit Neuland erkämpfen muß, 
und dai der Aufbau der neuen Geſellſchaft ungleich ſchwieriger iſt als der Umſturz 
der alten Geſellſchaft; ſie wiſſen auch nicht, daß es viel ſchwerer, aber auch nußs» 
bringender iſt, für den SozialisSmus und ſeine Verwirklichung zu leben, als dafür zu 
ſterben. Es gibt Leute, die da bereit ſind, ſo beteuern ſie wenigſtens, ihr Leben in 
die Schanze zu ſchlagen, wenn der Signalruf der Revolution ertönt, aber wenn ſie 
in der Organiſation ihre Pflicht und Schuldigkeit tun ſollen, ſo ſind ſie nicht zu 
Hauſe. Zum Glück ſür den Sozialismus bricht ſich die Ueberzeugung immer mehr 
Bahn unter den Arbeitern, daß die praktiſche Gegenwartsarbeit im 
Hinbli> auſ die Zukunft die Vorbedingung einer ſozialiſtiſchen Geſell» 
ſchaſt iſt. 
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Unter allen jozialen Dichtern aus der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts 
iſt wohl Ferdinand Freiligrath derjenige, der dem Elend des Volkes in. herz» 
ergreifſendſter Weiſe Ausdruc> verliehen hat. Und wenn er vorwiegend das materielle 
Elend ſchildert, ſo erflärt ſich dies aus dem erbärmlichen Zuſtand jener Zeit zur 
Genüge. Das Kapital hatte es fertiggebracht, die Arbeitszeit ganz ungeheuerlich 
zu verlängern und gleichzeitig die Löhne herabzudrücken; es kam vor, daß zwölfs 
jährige Kinder mehr als dreißig Stunden ununterbrochen in den Mordhöhlen der 
Fabriken zurü&gehalten wurden, und das Zut9odearbeiten wor damals an der Tages» 
ordnung, ſo daß ſelbſt bürgerliche Zeitungen ſchrieben: „Unſere weißen Sklaven 
werden in den Tod gearbeitet, und ſie ſterben und verderben ohne Sang und Klang.“ 
Dieſes ſcheußliche Clend ſpiegelt ſich wider in dem herzzerreißenden Gedicht „Das 
Lied vom Hemde“, das mit dem Herzblute des Dichters geſchrieben iſt: . 
Mit Fingern mager und müd", 
Mit Augen ſchwer und rot, 
In ſchlechten Lumpen ſaß ein Weib 
Nähend fürs liebe Brot. 
Stich! Stich! Stich! 
Aufſah ſie wirr und fremde, 
In Hunger und Elend flehentlich 
Gang ſie das Lied vom Hemde. 
Sdqhaffen! Schaſfen! Schaffen! 
Sobald der Haushahn wach, 
Und Schaffen! Schaffen! Schaffen! 
Bis die Sterne glüh'n durchs Dach.
	        
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