Full text: Arbeiter-Jugend - 18.1926 (18)

Arbeiter-Jugend 339 
zu kommen. Ein Bote, der von Dresden nach Berlin eilte, ging vom Morgen bis 
Abend über unbebautes Land, durch aufſchießendes Nadelholz, ohne ein Dorf zu 
finden, wo er raſten fonnte. Zweidrittel bis Dreiviertel der Menſchen, 
die Deutſchland einſt bewohnt hatten, waren zugrunde gegangen. Noch größer 
waren die Verluſte an Zug- und Nußvieh, an Hausrat. Was der Fleiß des 
deutſchen Volkes geſchaffen, war vernichtet, und ſelbſt die Keime neuen Gedeihens 
ſchienen gebrochen. Die wirtſchaftlichen Zuſtände Deutſchlands nach dem- Krieg er- 
innern an eine Wüſtenei, in welcher das Auge kaum einen Ruhepunkt, kaum eine 
Oaſe zu entde>en vermag. Wohin man ſeine Schritte lenkte, nur Ruin und Ver- 
weſung und darüber Wildnis aufwuchernd. Zerfallene Dörfer, öde Städte, eine 
verzweiflungsvolle, von der Kriegsfurie ausgemergelte Generation! 
Was insbeſondere die Menſchenverluſte anbetrifft, ſo ſollen in Böhmen von 
drei Millionen Bewohnern nur 780 000 übriggeblieben ſein; in Sachſen ſollen allein 
in den beiden Jahren 1631 und 1632 ungefähr 934 000 Menſchen geſtorben oder 
erſchlagen ſein. Die Rheinpfalz ſoll vor dem Krieg eine halbe Million Einwohner 
gehabt haben, beim Friedensſchluß nur noch 48 000. In Magdeburg waren nad) 
dem. Brand von 1631 im ganzen 139 Häuſer ſtehen geblieben, „und die waren kleine 
Hüttlein“. Die Bevölkerung von Magdeburg wird für 1618 mit rund 40 000 an- 
gegeben und ſoll erſt dreißig Jahre nach dem Frieden, um 1680, wieder 7000 bis 
8000 erreicht haben. Aachen, [o heißt es weiter, zählte von ſeinen 100 000 Ein- 
wohnern nach dem Krieg kaum mehr den vierten Teil, Augsburg ſei von 80 000 
auf 16 000 geſunken uſw. Aus dieſen und anderen Berichten hat man geſchloſſen, daß 
ganz Deutſchland durch den Krieg, außer dem ſonſtigen ungeheuren Schaden, mindeſtens 
vie Hälfte ſeiner Bevölkerung verloren habe. Ja, manche gehen weit darüber hinaus 
und ſchäßen, daß die E'nwohnerzahl ganz Deutſchlands von etwa 17 Millionen, die 
jie vor dem Krieg betragen habe, bis auf ungefähr vier Millionen herabgegangen ſei. 
Das war das Bild, das man ſich 250 Jahre lang von dem Zuſtand machte, 
in den der Dreißigjährige Krieg Deutſchland geſtürzt habe. Seit Anfang des 
20. Jahrhunderts jedoch regte ſich ein Mißtrauen, ob man d'eſe Zahlen ſo ohne 
weiteres glauben dürfe, und mehr noch, ob man das, was die doch nur ſchr lücen- 
haften Ueberlieferungen aus einzelnen Orten und Gegenden melden, als für ganz 
Deutſchland gültig an"ehen dürfe. Zuerſt iſt man wohl an den rieſigen Zahlen 
ſtutzig geworden. Böhmen ſoll um 1618 drei Millionen Einwohner gehabt haben? 
Im Jahr 1900 haite es 6300 000, nur etwa doppelt ſoviel. Das ganze Königreich 
Gachſen zählte 1905 nur 4500 000 Einwohner. Freilich ſtimmt das Gebiet nicht 
genau überein. Aber wieviel Einwohner müßte Kurſachſen um 1631 gehabt haben, 
wenn in zwei Jahren 934 000 zugrunde gehen konnten? Und dann die Städte! 
Als man = in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts -- zum erſtenmal daran 
ging, die wenigen, aus dem Mittelalter überlieferten Volkszählungen oder ſonſtigen 
Angaben über die Volkszahl ernſtlich durchzuarbeiten, da ſtellte ſich heraus, daß 
man bei weitherziger Auslegung auf allerhöchſtens 25 000 für die größten deutſchen 
G.ädte kam. Auf Grund ſolcher Ermittlungen dürfen ums Jahr 1500 angenommen 
werden: für Lübe> ungefähr 22 000 Einwohner, für Nürnberg 20 000, Augsburg 
18 000, Gtraßburg 16 000, Roſtoc> 15 000, Frankfurt a. M. 10000, Das waren 
die großen Gtädte. Daneben hatte Mainz 6000, Leipzig 4000, Dresden 3000 
Einwohner. Gewiß iſt in den folgenden hundert Jahren ein Zuwachs hinzuge- 
fommen, aber 80 000 oder 100.000 Einwohner einer Stadt ums Jahr 1600 ſind 
vollig unmöglich. Aud kann die Geſamtbevölkerung Deutſchlands nicht 17 Millionen 
betragen haven. Volle. 200 Jahre ſpäter, 1816, lebten auf dem Gebiet, das 1871
	        
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