Full text: Arbeiter-Jugend - 18.1926 (18)

76 Arbeiter-Jugend 
 
als damals, wie er, der Verbannte in London, ſein „Lied der Amneſtierien im 
Rglusland“ „Berlin“ ſchrieb: 
Wir rücken an in kalter Ruh', wir beiſßen die Ratrone, 
Wir jagen kurz: Wir oder du! Volk heißt es oder Krone! 
Alber was wird der brave Bürger von heute erſt ſagen, wenn er hört, daß „ſein“ 
FFrreiligrath mit Karl Marx gut bekannt war; daß er mit ihm als jungverheirateter 
Kauſmann, gegen den ein Verhaſtsbefehl beſtand, 1845 in Brüſſel in Beziehung trat? 
Treiligrath hatte gerade (1844) ſeine Sammlung „Ein Glaubensbekenntnis“ erſcheinen 
laſſen, mit dem er ſich rücdhaltlos auf die Seite des Volkes ſtellte. Bis Dahin 
hatte er geglaubt, auf einer „höheren Warte“ dichten zu können, als durch direkte 
Parteinahme gegen Krone und Reaktion. Im Vorwort zu dieſem „Glaubens 
befenntnis“" ſpricht er von ſeiner Entwiklung: „Keines (meiner Gedichte) iſt gemacht; 
jedes iſt durch die Ereigniſſe geworden, ein notwendiges Reſultat ihres (der Ent- 
widlung der Dinge) Zuſammenſtoßes mit meinem Rechtsgeſühl und meiner Uober- 
zeugung . . . Die ruhig Prüfenden werden erkennen, daß hier nur von einem 
Jortſchreiten und einer Entwicklung die Rede ſein kann, nicht aber von einem buhle» 
riſchen Fahnentauſch, einem leichtfertigen Haſchen nach etwas ſo Heiligem, wie die 
Liebe und die Achtung eines Volkes es ſind . . . Das Aergſte, was ſie mir vor» 
zuwerſen haben, wird ſich zuleßt vielleicht auf das eine beſchränken, daß ich nun doch 
von jener „höheren Warte“ auſ „die Zinnen der Partei“ Herabgeſtiegen bin. Und 
darin muß ich ihnen allerdings recht geben! Feſt und unerſchütterlich trete ih auf 
die Seite derer, die mit Stirn und Bruſt der Regktion ſich entgegenſtemmen! Kein 
Leben mehr für mich ohne Freiheit! . . .“ 
Und dann klagt er Deutſchland an als „Hamlet“, ver vor Grübeln nicht zum 
Handeln kommt: 
Das macht, er hat zu viel geho>t; er lag und las zu viel im Bett, 
Er wurde, weil das Blut ihm ſto>t, zu kurz von Atem und zu fett. 
Er ſpann zu viel gelehrlen Werg, ſein beſtes Tun iſt eben Denken; 
Er ſtak zu lange in Wittenberg, im Hörſal oder in den Schenken. 
Er troßt im „Springer“: 
Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land -- mich ſchert es wenig, 
Kein Zug des Schidſals ſetzt mich matt: matt werden kann ja nur der König. 
Freiligrath kannte Sorge, Not und Ungewißheit. Empörtes Rechtsgefühl, heißes Mik= 
leid mit allen Armen und Enterbten jetzte das Herz des zähen, etwas ſcchwerblütigen 
Weſtſalen in immer heller guflodernde Flammen: 
Ehre jeder naſſen Stirn hinterm Pfluge: doch auch deſſen, 
Der mit Schädel und mit Hirn hungernd pflügt, ſei nicht vergeſſen! . . . . 
Er auch) iſt ein Proletar! Ihm aud) heißt es: Darbe! Borge! 
Ihm auch bleicht das dunkle Haar, ihn auch hetzt ins Grab die Sorge! 
Es war gewiß nicht, wie bei Karl Marx, die von tiefſter ſoziologiſcher Einſicht 
geleitete Kraft ſeiner Triebe und Gefühle, die Freiligrath nicht müde werden ließ, 
aber es war die Kraft eines unbeirrbaren, mitleidvollen Herzens; eines beſcheidenen 
dazu. Er war und blieb ein aufrechter demokratiſcher Revolutionär. Nicht mehr, 
aber auch nicht weniger. Erſt nach dem Weltkrieg finden ſich Dichter, die an ſeine 
große revolutionäre Tradition anzuknüpfen und ſie in ein neues Wollen umzuformen 
verſtehen. 
In Detmold war er geboren als Sohn eines unruhigen Schulmeiſters. Früh 
ſtarb ihm die Mutter, dem Neunzehnjährigen auch der Vater. Als Kaufmann erwirbt 
er ſich mit eiſernem Fleiß eine geſicherte geiſtige Grundlage, beſonders auch Sprach»
	        
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