Full text: Arbeiter-Jugend - 19.1927 (19)

186 
ur. 8 
 
Cieder hin aus allen JFenſtern Weißbrote, Brötchen und 
Pläß<en geflogen kämen. Statt deſſen aber war ein 
I<re>lic<es Getöſe loSgebrohen und kleine Rugeln waren 
geflogen gekommen. Einer der Männer, die „Brot“ geſ<ren 
hatten, hatte „weh“ geſchrien und war hingeſtürzt. Da hatten 
der Dater und die anderen Leute unverſtändliche Dingg zu 
tun begonnen: hatten aus einem bena<barten Haus Fäſſer 
herbeigewälzt, einen zerbrochenen Tiſh, zwei: Bänke und 
ſogar einen großen Bühnrerſtall berbeigeſhleppt. Alles dies 
batten ſie in der Vlitte dor Straße aufgebaut und ſich jelbit 
dahinter auf die Erde gelegt. Louis hatte begriſſen, daß die 
traurigen Oeute Porſteken ſpielen wollten. Dann hatten ſie 
aus ihren Gewehren geſ<oſſen, und au auf ſie war 6e- 
ſchoſſen worden. Und dann waren andere Leute gekommen. 
Aud) ſie hatten Gewehre gehabt, aber ſie hatten fröhlich ge- 
la<ßt, und von ihren Müßen hatte große, ſchöne Rokarton 
geleuhtet, und von allen waren ſie „Gardiſten“ genannt 
worden. Dieſe Ceute hatten ſeinen Dater gepackt und ähn 
na< dem Boulevard (Alleeſtraße) St. Martin geführt. Louis 
hatte geglaubt, die Gardiſten wollten ſeinem Dater Eſſen 
geben: und war ihnen nachgegangen, obwohl es ſ<on ſpät 
geweſen war. Auf dem Boulevard hatte er la<ende Frauen 
- geſehen und Stußer, die unter Kaſtanienbäumen rubinrote 
Getränke ſ<hlürften, und tauſend Cichter hatten auf dem 
ſpiegelnden Kſphalt des Trottoirs geflimmert. Lm 
St. Martinstor hatte eine der ſorgloſen Frauen aus einem 
Cafe den Eardiſten zugerufen: „Was führt ihr ihn ſo weit 
weg, er kann ja auch hier ſein Teil bekommen . .“ 
Couis war zu der la<enden Frau hingelaufen und hatte 
ſ<hweigend wig ein! Rabenjunge ſeinen YMund aufgeſperrt. 
Einer der Gardiſten hatte ſein Gewehr genommen und einz2n 
Schuß abgegeben. Der Dater hatte aufgeſchrien und war hin- 
ceſtürzt, die Frau aber hatte gela<t. Louis war zum Dater - 
geeilt, hatte ſich an ſein Bein geklammert, das no<h aUuS- 
geſtreRt war, als ob der Dater im Liegen hätte weitergehen 
wollen, und hatte fur<tbar zu ſchreien begonnen. 
Da hatte die Frau geſagt: 
„Erſ<ießt do< au< das Hundejunge!“ 
Aber ter Stußer, der am Uachbartiſ<) ſeinen rubinroten 
Trank ſ<lürfte, 'Hhatte eingewandt: 
„Wer wird dann arbeiten?“ 
Und Couis war am Leben geblieben. 
Juli war ein ſtiller Auguſt gefolgt; 
jungen, Reiner geſ<oſjen. Louis war Herangewac<ſen und 
hatte das Dertrauen des guten Stußers goere<tfertigt; ſein 
Dater Iean Rous war Maurer geweſen, und Maurer war 
au< Louis Roue geworden. In weiter Ulankeſterhoſe. und 
blauer Leoinenbluſe baute er Häuſer, baute Sommer und 
Winter, das ſchöne Paris wollte immer no< ſ<höner werden, 
und Couis war dort, wo die neuen Straßen angelegt wurden: 
Ca Place de l'Etoile*). 
Die breiten mit Kaſtanien bepflanzten Boulevards Hauß- 
mann und YPlaleSherbes und die Prunkallee der Oper, deren 
Gobhäude no<+ im Walde verſteckt lagen, wohin aber die un- 
geduldigen Händler ſ<on ihre Raritäten: Pelze, Spizen und 
Edelſteine brachten. Er baute Theater und Läden, Cafes und 
Banken, baute herrliche Häuſer, damit, wenn über die 
Straßen ter Wind vom Kanal wehte und in den Krbeiter- 
manſarden: der Rörper vom Hau>! des Uovembernebels xr- 
ſtarrto, die unbekümmerten Frauen ſorglos weiter lächeln 
konnten. Er baute Bars (Trinkſtuben), damit die Stußer 
nimQt vaurauf zu verzichten brauchten, in dunklen, ſtornen- 
lojen: Nächten ihre rubinroten Getränke zu ſc<lürfen. Er 
entferntg die ſ<weren Steine und legte das nſphaltene 
leichteſte Pflaſter in der herrlichſten aller Städte -- Paris. 
Unter Tauſenden von Blaubluſen gab es einen, namens 
Couis Roue, in kalkgepudertoan Mandeſterhoſen, mit einem 
großen fla<ßen Hut, die Tonpfeife zwiſchen den: Sähnen, und, 
wie Tauſende anderer, plagte er ſich ehrlic um die Pracht 
des zweiten Kniſerreimes. 
. s) ſprich plaß do lötoall (Ton auf der Endſilbe) = RPlaßz des Sterns. 
Auf den ſtürmiſ<en 
Grbeiter-IJugend 
tränk in ein Glas. 
keiner hatte mehr 6Ge- 
Er baute herrliche Häuſer, ſtand dabei tags auf der Ceiter 
und lag nadhts in einer ſtinkenden Kammer einer Gaſſe im 
Dorort St. Antoine*). In der Kammer rod) es nad) Kalk 
und ſ<warzem billigem Tabak, das Baus ſtank na< Raßen 
und uncewaſ<ener Wäſ<e, und die Straße ſtank wio alle 
Straßen des Dorortes St. Antoine na< dem Jett der Roſt- 
blehe, auf denen die Äraßienhändler Kartoffeln brieten, 
nach dem faden Blutgeru< der IFleiſcherläden mit dem. lila- 
geſtempelten PferdefleiſM, na< Beringen, na?) dem Unrat 
der Müllhaufen und nah dem Rauch der Oeſ<en. Aber niht 
der Dorortſtraßen wegen, ſondern wegen der breiten, na 
Maiglö>k<en, naH9 Wandarinen und nam den Parfümerie- 
ſchäßen der duftenden Boulevards und dem ſiebenzakigen 
Stern, wo tfagsüber die Blaubluſen auf ihren Leitern 
ſ<webten, wird Paris als die ſchönſte aller Städte gerühmt. 
Couis Rouge baute Cafes und Bars. Er trug die Steine 
zum Cafe du Regime zuſammen, dem Lieblingsaufenthalt der 
Sqhadſpieler, zum Cafe Anglais, wo die Stußer, die Beſiker 
von Rennpferden und berühmte Fremde ſich trafen, für die 
„Taverne Madrid“, die in ihren Mauern die Schauſpieler 
von mehr als ZWAnZIg Theatern ſammelte, . und ſür viele 
andere würdige Bauwerke. Aber niemals, ſeit dem Tode 
ſeines Daters, ging Louis Roue an vin fertig gebautes Caſe 
nahe heran, und ni<t ein einziges Mal verſuchte er d72 
rubinroten Getränke. Wenn er vom Unternehmer ein paar 
weiße kleine Münzen erhielt, ſo nahm ähm dieſe Münzen 
der alte Budenwirt in ſeiner Gaſſe ab, gab. Louis dafür ein 
paar große ſ<warze Münzen und goß ihm ein trübes Gs- 
In vinem Zuge goß Louis den Schnaps 
hinunter und ging in ſeine Kammer ſchlafen. 
- Gab es weder weiße no<h dunkle Münzen, no< Snaps, 
no< Brot, noh Arbeit, ſo kramte Louis aus ſeiner Taſch2. 
ein PrisShen verſchütteten Tabaks bervor oder ſuchte ſic) auf 
dor Straße Ziägarettenſtummel, ſtopfte ſeine Tonpfeife und 
ging mit ihr gedrü>t dur< die Straße n des Dorortes. Ex 
ſang niht, no<h ſ<rie er „Brot“ wie eS einſt ſein: Dater, IJeanr 
Roue, getan hatte, denn er beſaß weder ein Gewehr, mit dem 
Gr hätte ſchießen können, no< einen Sohn, der wie ein 
Rabenjunge den Sdinabel aufſperrte. 
Couis Roue tat was in ſeinen Kräften ſtand, damit die 
Frauen von Paris ſorglos läc<ßeln konnten, hörte er aber 
ihr Lachen, ſo entfernte er ſim erſhrek>t: fo hatte einſt die 
Frau in dem Cafe auf dem Boulevard St. Martin gela<t, 
als Iean Roue auf dem Straßenpflaſter gelegen hatte, im 
Ciegen no< bemüht, weiterzugehen. Couis hatte überhaupt 
bis zu ſeinem fünfundzwanzigſten Iahre keine? junge Irau 
in der Uähe goſehen. Kls er fünfundzwanzig Jahre alt ge- 
worden war, paſſierte ihm, was früher oder ſpäter allen 
Menſ<en paſſiert. In der Uebenmanſarde wohnte die junge 
Taglöhnerin Juliette. CTouis begegnete Juliette abends auf 
der engen, gewundenen Treppe, ging zu ihr, um ſi<Q Streid- 
hölzer bei ihr zu holen, da ſein Feuerſtein abgenügt war 
' und kein Feuer gab, ging hinein und kam erſt gegen Morgen 
wieder heraus. Am andern Tag bradte Juliette ihre Zwei 
Bemden, eine Taſſe und eine Bürſte in Louis Manſarde und 
wurde ſeine Frau, und na< einem Iahr erſchien in der engeit 
Manſarde ein neuer Gaſt, der im Standesamt als „Paul 
Marie Roue“ eingetragen. wurds. 
So lernte Couis das Weib: kennen, aber zum Unterſchied 
von vielen anderen, auf die das herrliche Paris mit Recht 
ſtolz iſt, lachte Juliette niemals, obwohl Couis Roue ſie ſehr 
lichte, wie eben ein Maurer lieben kann, der die ſ<weren 
Steins hebt und prachtvolle Bäuſer baut. Wahrſ<einlid 
lachte ſie nie, weil ſie nur zwei Hemden beſaß und Louis, 
der häufig weder helle noch dunkle Münzen hatte und finſter 
mit der Pfeife dur< die Straßen des Dorortes St. Antoine 
ſchlenderte, ihr auch nicht eine einzige gelbe Münze zu 
einem neuem Rleide geben Konnte. 
Im Borbſt 1869, als Louis Roue achtundzwanzig und ſein 
Sohn Paul 3wei Jahre alt war, nahm JIuliette ihre zwei 
x) ſprich ſäng angtoang (Ton auf der Endſilbe)
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.