Full text: Arbeiter-Jugend - 21.1929 (21)

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Arbeiter-Jugend 
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Backfiſchträume. 
med ie Ofraßenbahn rollf durc) das abendliche Geſchäfts- 
58 kvierfel. Die Läden haben längſt die Rolläden herunter- 
- T gelaſjen, nur hier und da -- in den ganz vornehmen 
Gaufenſtern -- prangen die bunffarbigen Auslagen nacht- 
über im elektriſchen Licht. 
Halteſtelle. Menſchen ſtrömen ab und zu. Ein junges 
Madchen, eben dem Kindegalter entwachſen -- ſie mag fün = 
zehn Jahre zählen --, drängt ſic) durc<; die Reihen und 
erhaſcht einen leeren Plaß mir gegenüber. Die rote Basfen- 
müße laßt das blaſſe, ſchmale Geſicht noch blaſſer, die 
Schaffen unter den Augen noch dunkler erſcheinen. Blonde 
Locken Fräuſeln ſich über der Gtirn. Ein junger Burſche, der 
eben dem Ausgang zuſtrebt, hält grüßend inne. Die beiden 
Fennen einander, in aller Haſt entſpinnk ſich ein kurzes 
Geſpräch.“ 
„UHeberſtunden?“ Die Kleine nickt. Sie macht jeden Lag 
Ueberſtunden, fennf es faum anders. „Wo lernſt du jeßt2“ 
Das Mädchen nennt den Namen einer Firma, die als „Lehr- 
lingszüchter“ ſtadtbekannt und ſtadtverrufen iſt. Das Ge- 
ſpräch beginnt mich zu feſſeln. „Kriegſt du die Ueberſiunden 
guf bezahlt?“ Gut? Die Gefragte iſi ehrlich erſtaunt. Ueber- 
haupt nicht, „Na hör mal! Und das laßt ihr euch gefallen?“ 
Natürlich laſſen ſie ſich es gefallen. Wer aufmuckkt, fliegt. 
„Was ſagt denn dein Berband dazu?“ Verband? Die Kleine 
ſeßf eine abweiſende Miene auf. Sie iſt in keinem Berband. 
Tür ſowas hat ſie kein Geld. Der Verband hilft 
ihr auch nichf. In zwei Jahren hat ſie ausgelernt, und 
dann . .. Der junge Arbeiter erfährt nicht mehr, was dann 
geſchehen ſoll. Seine Halteſtelle iſt gekommen. Achſelzu>end 
verläßt er mit einem „Na, Servus!“ den Wagen. 
IMein junges Gegenüber mif der rofen Müße zieht ein 
Zeiftungsblaff aus der Laſche und beginnt baſtig, hungrig 
faſt, zu leſen. I< muſtere den Litel: „Romoanzeitung“. Das 
Bort iſt von Blumenguirlanden und necdfiſchen Putten um- 
geben. Die Leſerin, unter deren müde Augen der Abenddienſt 
dunfle Ringe gemalt hat, verſchlingt die Zeilen; die ſchmalen 
Wangen der Fünfzehnjährigen röten ſich. J< weiß genau, 
was in dem Blatte ſteht, weiß, daß es etwa ſo ausſiebt: 
„Graf Egloffſtein erhob ſiß vom blauen Gamt des ver- 
goldefen Lehnſeſſels neben dem Marmorfamin und traf in 
das ſanfte Licht des ſec<sarmigen Kronleuchtfers auf INelanie 
von SGiebenhauſen zu, der das Blut ihrer ÜUhnen in die 
raſſigen Wangen ſchoß. . .* So las man es vor fünfzig 
Jahren in jenen Blättchen, ſo ähnlich lieſt man es bhente noch. 
IMeine Augen ſuchten wieder das fleine Lehrmädchen. Die 
Worte von vorhin fallen mir ein: „In zwei Jahren habe 
ich ausgelernt, und dann . ..“ Ta, was dann? Dann wird 
ſie, wenn ihr das Glück wohl will, eine Anfangsſtellung 
finden mif fünfzig, ſechzig Mark Gehalt im Monat. Für 
dies Gehalf wird ſie noch länger arbeiten als jeßt, noch mehr 
Ueberſtunden leiſten, und wenn ſie aufmuckt, wird ſie „fliegen“ 
dorf wie hier; denn kein Verband ſteht ſchüßend hinter ihr. 
Sie haf „kein Geld für ſowas“. Sie flüchtet lieber vor der 
Wirklichfeit in die Scheinromantif der Romanſchmöker, die 
ihr den Blick für das Leben verderben. Und ſpäter, „wenn 
ſie ausgelernt hat, dann . . .“, dann wird ſie das erſte ver- 
diente Geld ſiolz ins Kino tragen, zu jenen Filmen, die „für 
Jugendliche verboten“ ſind. Und dorf wird ihr die Welt der 
edlen Grafen und entzückenden Baroneſſen, der ehrwürdigen 
Stammſchlöſſer und der vornehmen Zehnzimmerwohnungen 
erſt richtig aufgehen in aller Pracht und Herrlichkeit. Dort 
wird ſie die vielen, vielen Geſchichten vom Grafen, der ſich 
in ein Arbeiterkind verliebt, vom Millionär, der die kleine 
Berkäuferin zur Millionärin macht, vom Chef, der ſeine 
Aufwartung heiratet, mit brennenden Augen verſchlingen. 
Wann wird ſich einer erbarmen und dem jungen Ding 
erklären, daß die Welt der billigen Romane und der teuren 
Filme erlogen iſt, mit aller Liſt ausgeſonnen, um die Müden 
 
 
und Hungrigen einzulüullen, um ſie mit ſinnloſen, unerfüll- 
baren Soffnungen zu berauſchen? Die Kleine iſt immer noch 
in ihre Lektüre verfieff und lächelt ſelig vor ſich hin. Mir 
aber wird wieder einmal Flar, daß noc unendlich mühſame 
zuhe Mleinarbeit zu leiſten iſt. Es gilf zu rufen und aufzu- 
rüffeln, es gilf -- vor allem in ven Köpfen erwachender 
Jugend -- die verlogene CHeinwelt bürgerlicher Nomantik 
zu zerſtören und dafür das ſozialiſtiſche Kampfziel zu errichten. 
Baie Setteritröm: Das Tämelin. 
2% 058 Leben iſt ein Traum -- allerdings nur im Lbeater. 
58 8 ain den meiſten anderen Orten herrſcht die grauiame, 
=< barfe Wirklichkeit. Ian lebt ſein alltägliches, leeres 
Qeben ohne Sühlung mit einer höberen Lenkung. Alles wie 
nach einem beſtimmten Programm, Lag aus, Tacdht ein. 
Mitten in dieſer harten, ernſten Wirklichkeit, erſchrec>end 
und grauſam, leuchfetf dann und wann ein Lächeln auf, das 
entwaffnet und erlöſt. Wo kommt es her? Ier ſendet es 
hinaus? 
Mir fällt eine kleine Geſchichte von Charlie Chaplin ein. 
Als er jung und arm war, krat er in einem Fleinen Jariets 
in London auf, wo er mit Kugeln jonglierte, eine Kunſt, die 
mehr ſc<wierig als einträglich war. Chaplin lebte einfach und 
zurückgezogen, ſeinen Einnahmen entſprechend. Das einzige 
Bergnügen, das er ſich gönnfe, waren Zigareffen, ziemlich 
viel Zigaretfen und nicht von der beſten Gorte. Ctreichhölzer 
zu Faufen, fand er zu feuer. Er ging ſtatt deſſen in einen 
Eeinen Zigarrenladen, wo er höflich ſeinen Fleinen Sut zog, 
ſeine Zigarette an dem Zündapparat anſteckfe und verſchwand. 
Das ging eine Weile ganz gut aber eines Tages verlor der 
Zigarrenhändler die Geduld, ſchlug mit der Fauſt auf den 
Cadentiſch und brüllfe: 
„Gagen Gie mal, wer ſind Gie denn eigenflich?“ 
„Wijſen Sie das nicht?“ erwiderte Chaplin ruhig. „JD 
bin doch der Fleine Herr, der jeden La3 bherfommt und jeine 
Zigarette anſteckt.“ 
Und dann zog er ſeinen Fleinen Hut und gliff ebenſo leite 
hinaus, wie er geFommen war. 
Das war ein Aufleuchten des großen, ſchön 
eine harfe Töelt erhellt. 
n Lacdelns, das 
* 
„cb erinnere mich auch einer anderen Eleinen Geſchichfe, 
die dasſelbe beſagt. Cie ſpielt ſich am Kai einer großen 
Hafenſtadt ab, als ſich ein großer Ozeandampfer in Be- 
wegung ſeßt. Cs ſind viele Leute auf dem Kai und an Bord, 
Leute, die wegfahren, und Leute, die Abſchied nehmen. Auf 
dem De> ſteht eine junge Mutter, und auf dem Arm krägt 
ſie ein kleines Kind, das ſie ab und zu in beſtimmten Nb» 
ſtänden hoc<hältf, während ſie ein paar Verwandten da unten 
zUruff: 
„Guſtav ſagt: Lebt wohl! Guſtav ſagt: Lebt wohl!“ 
Durch irgendeine unbeabſichtigte Bewegung, einen Stoß 
oder etwas anderes läßt die Mutter ihr Kind fallen, das ins 
Waſſer fällt. Der Dampfer iſt auf dem Wege nach draußen, 
jeder IMenſch iſt mif ſi beſchäftigt, es iſt nur ſehr wenig 
Ausſicht, das Kind zu retten. Die Mutter ſchreit um Hilfe, 
und die Leufe am Kai laufen kopflos durcheinander. Da 
geſchieht efwas, was mit dem verwandt iſt, was Mark Twain 
einſt „das Chronometer Gottes“ nannte -- ein Ilann der 
Beſaßung, der in der Jiähe der Mutter ſteht, ſpringt über 
Bord, und es gelingt ihm, in einer der leßten Cefunden das 
Kind zu faſſen. Mit beiden Händen holt er es aus dem 
Waſſer heraus, hebt es auf und nieder, wie es die Mutter 
vorhin auf dem De> gefan hat, während er ruft: 
„Guſtav ſagt: Guten Tag! Guſtav ſagt: Guten Tag!“ 
Und dann leuchtete wieder das ſchöne Lächeln auf, erlöſend, 
entbindend, das Lächeln Goktes auf Erden. Sollen wir es 
Zumor nennen, den großen Humor?
	        
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