Full text: Arbeiter-Jugend - 22.1930 (22)

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ARBEITER-JUGEND NR. 3 BESSE 
Unsere politische Erziehung 
Beiträge zum Thema „Verbandspolitik“ 
Der Sinn jeder Arbeitsgemeinsdnaft ist, in gemeinsamer, 
Sachlicher Ausspradhe eine Klärung über irgendeine Frage 
herbeizuführen. Der Sinn unserer Bildungsbeilage „Die 
Arbeitsgemeinsdqhaft““ Soll es Sein, unseren Lesern Material 
zur Ausspradhe über politische, wirtshaftliche und kulturelle 
Fragen zu vermitteln. In dieser Nummer wollen wir nicht 
nur informieren, Sondern eine Ausspradhe bringen über 
zwei Artikel, die in letzter Zeit in der „Arbeiter-Jugend“ 
ershienen gind. Es handelt *Sih um die Aufsäize 
„Jugend, Republik und Sozialismus“ von 
Theo Lüders in der Dezember-Nummer und „Ünsgere 
Dolitische Erziehungsaufgäbe“ von Erich 
Ollenhauer in der Januvar-Nummer. Zum ersten Artikel 
Schireibi der Genoss?: Walter Pape, Chemniiz: 
Ein Transparent mit der Aufschrift „Republik, das ist 
nicht viel, Sozialismus heißt das Ziel“ hat den Genossen 
Theo Lüders, Bremen, veranlaßt, einen Artikel für die 
„Arbeiter-Jugend“ zu Schreiben über „Jugend, Republik und 
Sozial;emaus“, und die Schriffleitung will wochl, da Sie diesen 
Artikel auf der erzten Seite der Dezember-Nummer zum 
Abdruck brachte, zum 'Ausdruck bringen, daß diese Aut 
faszung die cffiziell anerkannte ist. Das ist äöhr gutes Recht. 
Aber vielleicht gestattet Sie auch den etwas anders denken- 
den Mitgliedern ihre Meinung zu äußern. Es geht doch 
Schon gar nicht an, daß man die andere Anschauung mit 
dem Unfug „Schlagwortpolitik“ läcterlich zu machen ver» 
Sucht. Des weiteren wird die Schriftleitung auch nicht ver- 
langen, daß alle 60 000 Mitglieder unseres Verbandes ihre 
Auffasgung als die einzig richtige hinnehmen und nach» 
plappern. Jedenfalls müSsen wir uns gegen eine Solche 
Eingeitigkeit und Uniformierung der politischen Anschauung 
auf das Entschiedenste wenden und dagegen wehren. 
In einer MassenorganiSation wie dem Verband der So- 
zialistiSchen Arbeiterjugend haben alle Anschauungen 
Platz, Soweit Sie nicht gegen die elementarsten Grund-ätze 
verstoßen und organigationsschädigend wirken, Davon Kann 
in bezug auf das angeführte Transparent keine Rede Sein. 
Die Stellung der. Jugend zur Republik. ist weiter nichts als 
die Stellung der proletarischen Jugend zum Staat und das 
iet meines Wissens das Kernprcblem, um das Sich alles 
dreht. Es taucht Scfort die Frage auf, ist die Republik ein 
Klasgenstaat oder ein Volksstaat und bietet die Weimarer 
Verfassung die Sicherheiten einer Volkswohlfahrt und 
wirklichen Sozialen Gleichberechtigung, die Sich auf das 
wirtschaftliche und pclitisSche Sein bezieht. Das ist eben 
der Angelpunkt aller Fragen, die die Jugend in der Gegen 
wart beschäftigen. Die Wirklichkeit Spricht oft eine deui- 
lichere Sprache. als alles bedruckte Papier, und da nützi 
es auch nichts, daß man alte, abgebrauchte politische Laden» 
hüter hervorholt, um zu beweisen, daß es uns unter der 
jetzigen demokratisch-republikanischen Staatsform besser 
geht als in der Vorkriegszeit und den Gründungsjahren der 
Arbeiterbewegung. Es ist ganz Selbstverständlich, daß, 
“wenn unser Kampf überbaupt einen Sinn haben Soll, wir 
Fortschritte machen und dem Ziel näher kommen mügsen. 
Man kann auch unmöglich mit dem Maßstab damaliger Zeit, 
als Sich das 'Proletariat durch die aufkommende Industrie 
und damit neue gesellschaftliche Sitvationen als Klasse kon» 
Stitwierte, das politische Denken, Wollen und Handeln 
mesSen. Wir mügssen auch endlich einmal darüber hinaus 
kommen, daß das Proletariat 1918 die bürgerliche Revo 
lution vollendet hat, indem es die Spezifische Staatsform 
des modernen KapitalisSmus Schaf. 
Von dieser Staatsform und ihrer Sogenannten freiheit- 
lichen Verfassung wird kein Proletarier Satt. Die Republik 
ist eben für den Proletarier wirklich nicht viel, da Sie grund- 
Sätzlich an der Lohnsklaverei und Ausbeutung von Mensch 
zu Mensch nichts ändert. Die wirtschaſtliche Gleichbe- 
rechtigung bleibt eben auch in der jetzigen Staatsform der 
formalen Demokratie eine Fiktion und erschüttert den Kapi- 
talismus, 3owie Seine gesellschaftliche Ordnung nicht in 
Seinen Grundfesten, Sondern im Gegenteil, die moderne 
Wirtschaftsentwicklung, in LIrusts, Konzernen und Kartellen 
hat es mit Sich gebracht, daß der Kapitalisemus eine immer 
größere Macht im Staate an Sich gerissen bat zur wirt 
Schaftlichen Ausbeutung (RationaliSierung) und politiSchen 
Entrechtung der proletarisSchen Klasse. Einige Beispiele 
Seien hier genannt: Zeitungskonzerine und deren ideo- 
logische Beeinflussung des Proletariats, Inflation und Ent= 
eignung der kleinen Sparer und Expropriation des Mittel- 
Standes. Wie oft haben Sich auch Sozialistische Minister 
den Diktaturgelüsten der Kapitalisten beugen müsSen. So 
Stand doch in letzter Zeit die Regierung, in der auch vier 
Soczialdemakraten Sitzen, unter dem dauernden Druck des 
allgewaltigen Finanzkapitals. Gäbe es So etwas wie einen 
Volksstaat coder eine Volksfustiz, dann mußte die Aniwort 
auf das ErpreSSertum der Finanzkapitalieten Zuchthaus- 
Strafe Sein. Wir fragen, wo ist hier der Starke Arm des 
Staates? Es Sind eben noch andere Kräfte in“ der demo- 
kratischen Republik, die durchaus auch ein Klassenstaat Iist, 
wie Hunderte von Justizurteilen beweisen, wirksam, als ihre 
Verfasggung und freien Gesetze. Das Scheint Genosse Lüders 
ganz außer acht zu lassen. Diese Krädte können wir nur 
auf dem ungesetzlichen Weg der Sozialen Revolution wirkK- 
Sam bekämpfen, d. h., indem Sich das Proletariat des Staats- 
cder Machtapparats bemächtigt und die Klassendiktatur 
aufrichtet. in 
Von einem. VolksStaat zu reden, ist Schon desweigen ein 
Nonsens, weil es in der Kkapitalistischen Gesellschaft Kein 
Volk gibt. Innerbalb eines Staates Sind die Zielsetzung'an 
Seiner Bürger verschiedene. -Die eine Klasse benützt den 
Staat, der weiter nichts ist als ein politiSches Mittel, zur 
Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung und die andere 
Klasse zur Beseitigung der bestehenden Ordnung. Der Staat 
wird auch während der Herrschaft des Proletariais noch 
ein Klagssenstaat bleiben und- erst dann absterben als 
KlasSeninstrument, wenn er keine politisSchen Funktionen 
mehr zu erfüllen hat. Wir wollenden Staat nicht 
verneinen, Sondern unser Ziel ist die ganze Macht im 
Staat, und dieses Ziel führt auch von der Gesetzlichkeit zur 
Ungesetzlichkeit, zur gewaltsamen Auseinandersetzung des 
Proletariats mit der Bourgeoisie. Oder glaubt der Genosse 
- Lüders gar, daß die Bourgeoisie ihren Besitz freiwillig aus- 
liefert, Sich auf gesetzlich-demokratischen Wege enteignen 
läßt? Es Sei bier nur an den Gedanken der Wirtschaits- 
demokratie erinnert. Diese Ansichten dürften gegen die 
gegebenen Tatsachen Sprechen, auch nicht die Kalte Soziali- 
Sierung läßt Sie Sich gefallen. Wie oft wird von den Ge- 
fahren der öffentlichen Wirtschaft gesprochen. Die Indu- 
Strie iSt gegenwärtig drauf und dran, die öffentlichen Be- 
triebe in die Hände der Privaten zu überführen. 
Die demokratische Republik hat gewiß einen günstigeren 
Kamwpfboden geschaffen, aber zu gleicher Zeit auch die 
wirklichen, großen Probleme, derentwegen Sich die Arbeiter“ 
klasse politisch gespalten hat. An der Lösung dieser Pro- 
bleme zu arbeiten, ist die Hauptaufgabe der jungen Gene“ 
ration. Die Arbeiterklasse bat große Erfolge errungen und 
freiere Entwicklungsmöglichkeiten auf Grund ihrer Stärke, 
aber Sie iSt auch auf manchem Gebiet, es Seien nur die 
Sozialen Einrichtungen genannt, von dem erstarkten und. 
Stabilisierten Kapitalisumus zurückgedrängt worden. Sie 
leidet gegenwärtig unter der größten wirtschaftlichen Not. 
Wir Können auch nicht fortwährend auf ungeren Eriolgen 
herumreiten und uns gar mit diesen Erfolgen zuirieden 
geben, Sondern müsSen vorwärts Stoßen, dem Sozialismus 
entgegen. 
Die junge Generation kennt nicht die Verhältnisse der 
Vorkriegszeit und möchte man auch weitere Fortschritte
	        
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