Full text: Arbeiter-Jugend - 24.1932 (24)

Veberraschend dürfte die Feststellung Sein, daß der größere Teil der Fürsorgezöglinge | 
nicht in Anstalten, Sondern in Familienpflege, Dienst oder Lehre unter 
gebracht ist, nämlich 45 773 Zöglinge gleich 51,1 Proz. 
Trotzdem die Antragstellung auf Ueberweisung in Fürsorgeerziehung hauptsäch- 
lich beim Jugendamt liegt, haben die kirchlichen Einrichtungen auf Grund der 
Ausführungsverordnungen noch einen großen Einfluß darauf. Die Weltiremdheit 
vieler Geistlicher und das dogmatische Festhalten an den Kirchlichen Sittenlehren 
bringt es mit Sich, daß SO mancher Jugendliche in Fürsorgeerziehung Überwiesen 
wird, obwohl tausende Seiner AltersgenosSen ähnliche Streiche verübten und nur 
das Glück hatten, nicht erwischt ZU werden oder in der Wahl ihrer Eltern vor» 
Sichtiger gewesen zu Sein. 
Das Sei mit aller Deutlichkeit festgestellt: Die Fürsorgeerziehung er- 
Streckt Sich fast ausschließlich auf die proletarische 
Jugend, trotzdem die Verwahrlosung der Jügend der Sogenannten besseren 
Schichten oft noch Schlimmer ist. Es Sei nur an die. vor einigen Jahren Stattgefunde- | 
nen Schülerprozesse erinnert, die gezeigt haben, wie innerlich haltlos die Jugend 
des Bürgertums iSt. 
Freilich: Ein achtjähriger Junge begüterier Eltern wird nicht auf den Gedanken 
kommen, Obst zu Stehlen, weil Seine Wünsche weitest gehend erfüllt werden. Für - 
den gleichaltrigen Arbeiterjungen genügt dieses Vergehen in Verbindung mit einigen 
anderen Dingen -- vielleicht hat er einmal den Lehrer belogen oder Sein Vater ist 
dem TIrunke ergeben und in einem Solchen Zustand vielleicht auch gewalttätig --, 
um die VerwahrloSsung des Jungen festzustellen und ihn in Fürsorgeerziehung zu 
bringen. Mädchen mit Siebzehn Jahren werden als verwahrlost erklärt, weil Sie 
Geschlechtsverkehr gehabt haben. Tausende ihrer Altersgenossinnen, gerade aus 
den Sogenannten gebildeten Schichten, haben das auch getan, Sie haben aber, wenn 
Sie geschwängert wurden oder Sich eine Krankheit zuzogen, einen Hausarzt zur 
Verfügung und kommen, wenn der Vorfall irgendwie zur Kenntnis der öffentlichen 
Jugendfürsorge kommt, in ein Pensionat. Das Arbeitermädel kommt in 'Fürsorge» 
erziehung. 
Die Feststellung des verschiedenartigsten Beurteilens der Verwahrlosung Schließt 
natürlich nicht aus, anzuerkennen, daß die vom Staat durchgeführte Erziehung für 
die tatSächlich Verwahrlosten notwendig ist. Nur auf das Wie kommt es an. Der 
übergroße Teil der Erziehungsanstalten Steht unter Kirchlicher Leitung und wird im 
christlichen Sinne verwaltet. Nur eine Handvoll Anstalten gibt es, die moderne 
Pädagogers als Leiter haben. In der Nähe von Berlin Sind es der Lindenhof und 
StruvesShof, in der Lüneburger Heide besitzt die Arbeiterwohlfahrt das Fürsorge-» 
erziehungsheim Immenhof. In diesen Heimen haben die Jugendlichen weitest gehende 
Möglichkeiten zur Ausgestaltung ihrer Freizeit. 
Die kirchliche Erziehung iSt darauf gerichtet, dem Menschen zum Gehorsam. und 
zum Dulden zu erziehen. In der Fürgorgeerziehungspraxis bedeutet das unbedingte 
Unterordnung, Drill und Widerstandsbrechung. Darin liegt der Hauptfehler dieses 
SvsStems der Fürsorgeerziehung. Die jungen Menschen Sind in Fürsorgeerziehung 
gekommen, weil Sie gegen die Gesetze verstoßen hatten oder Sich der Gesgellschaft 
nicht anpassen konnten. Junge Menschen, die gegen die bestehende Ordnung 
tebellierten, bekommen nun verstärkten Zwang zu Spüren. ... . Ein Solches Verfahren 
'mwuß von vornherein aussichtslos Sein. Das ist keine Erziehung, Son“ 
dern Zwang 
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