Veberraschend dürfte die Feststellung Sein, daß der größere Teil der Fürsorgezöglinge |
nicht in Anstalten, Sondern in Familienpflege, Dienst oder Lehre unter
gebracht ist, nämlich 45 773 Zöglinge gleich 51,1 Proz.
Trotzdem die Antragstellung auf Ueberweisung in Fürsorgeerziehung hauptsäch-
lich beim Jugendamt liegt, haben die kirchlichen Einrichtungen auf Grund der
Ausführungsverordnungen noch einen großen Einfluß darauf. Die Weltiremdheit
vieler Geistlicher und das dogmatische Festhalten an den Kirchlichen Sittenlehren
bringt es mit Sich, daß SO mancher Jugendliche in Fürsorgeerziehung Überwiesen
wird, obwohl tausende Seiner AltersgenosSen ähnliche Streiche verübten und nur
das Glück hatten, nicht erwischt ZU werden oder in der Wahl ihrer Eltern vor»
Sichtiger gewesen zu Sein.
Das Sei mit aller Deutlichkeit festgestellt: Die Fürsorgeerziehung er-
Streckt Sich fast ausschließlich auf die proletarische
Jugend, trotzdem die Verwahrlosung der Jügend der Sogenannten besseren
Schichten oft noch Schlimmer ist. Es Sei nur an die. vor einigen Jahren Stattgefunde- |
nen Schülerprozesse erinnert, die gezeigt haben, wie innerlich haltlos die Jugend
des Bürgertums iSt.
Freilich: Ein achtjähriger Junge begüterier Eltern wird nicht auf den Gedanken
kommen, Obst zu Stehlen, weil Seine Wünsche weitest gehend erfüllt werden. Für -
den gleichaltrigen Arbeiterjungen genügt dieses Vergehen in Verbindung mit einigen
anderen Dingen -- vielleicht hat er einmal den Lehrer belogen oder Sein Vater ist
dem TIrunke ergeben und in einem Solchen Zustand vielleicht auch gewalttätig --,
um die VerwahrloSsung des Jungen festzustellen und ihn in Fürsorgeerziehung zu
bringen. Mädchen mit Siebzehn Jahren werden als verwahrlost erklärt, weil Sie
Geschlechtsverkehr gehabt haben. Tausende ihrer Altersgenossinnen, gerade aus
den Sogenannten gebildeten Schichten, haben das auch getan, Sie haben aber, wenn
Sie geschwängert wurden oder Sich eine Krankheit zuzogen, einen Hausarzt zur
Verfügung und kommen, wenn der Vorfall irgendwie zur Kenntnis der öffentlichen
Jugendfürsorge kommt, in ein Pensionat. Das Arbeitermädel kommt in 'Fürsorge»
erziehung.
Die Feststellung des verschiedenartigsten Beurteilens der Verwahrlosung Schließt
natürlich nicht aus, anzuerkennen, daß die vom Staat durchgeführte Erziehung für
die tatSächlich Verwahrlosten notwendig ist. Nur auf das Wie kommt es an. Der
übergroße Teil der Erziehungsanstalten Steht unter Kirchlicher Leitung und wird im
christlichen Sinne verwaltet. Nur eine Handvoll Anstalten gibt es, die moderne
Pädagogers als Leiter haben. In der Nähe von Berlin Sind es der Lindenhof und
StruvesShof, in der Lüneburger Heide besitzt die Arbeiterwohlfahrt das Fürsorge-»
erziehungsheim Immenhof. In diesen Heimen haben die Jugendlichen weitest gehende
Möglichkeiten zur Ausgestaltung ihrer Freizeit.
Die kirchliche Erziehung iSt darauf gerichtet, dem Menschen zum Gehorsam. und
zum Dulden zu erziehen. In der Fürgorgeerziehungspraxis bedeutet das unbedingte
Unterordnung, Drill und Widerstandsbrechung. Darin liegt der Hauptfehler dieses
SvsStems der Fürsorgeerziehung. Die jungen Menschen Sind in Fürsorgeerziehung
gekommen, weil Sie gegen die Gesetze verstoßen hatten oder Sich der Gesgellschaft
nicht anpassen konnten. Junge Menschen, die gegen die bestehende Ordnung
tebellierten, bekommen nun verstärkten Zwang zu Spüren. ... . Ein Solches Verfahren
'mwuß von vornherein aussichtslos Sein. Das ist keine Erziehung, Son“
dern Zwang
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