Full text: Arbeiter-Jugend - 24.1932 (24)

Jugend auf der Landstraße 
Es gab einmal eine Zeit, da ging' der 
junge Bursche im Frühjahr auf die 
„Walze“, um die Welt kennenzulernen, 
irgendwo Arbeit und Brot, vielleicht eine 
neue Heimat zu finden. Heute „walzt“ 
eine Masse von Zehntausenden junger 
Menschen über die Landstraßen, die der- 
einst auszogen, um Arbeit zu Suchen, 
die Schönheit der Länder Kennenzuler- 
nen, aber längst an der Natur kein In- 
teresse mehr haben und die Hoffnung 
auf Arbeit verloren haben. Es Sind nie 
die Schlechtesten gewesen, die von ihren 
oft zu engen Lebenskreisen hinaus in die 
Welt zogen, aber unter den heutigen 
Verhältnissen ist Selbst für die Besten 
keine Möglichkeit vorhanden, irgendwo 
Arbeit zu bekommen. Die Gefahr, ins 
Landstreichertum zu versinken, den Kon- 
takt mit der menschlichen Gesellschaft, 
mit der Klasse, zu verlieren, ist unge 
heuer groß. Während die „Walzenden“ 
einstmals noch hofiten, irgendwo eine 
anständige Arbeit zu finden, ist es tür 
Sie heute fast nicht mehr möglich, auch 
nur einmal bei einem Bauer Hilfsarbeit 
verrichten zu können; 
immer die kleinen Bauern, die „walzend2 
Kunden“ zu Erntearbeiten usw. beschäf- 
tigten. Doch heute leiden gerade diese 
ebenfalls unter der größten Not und 
können nicht einmal. gegen Brot und 
Obdach Menschen über längere Zeit be 
Schäftigen. | 
Für den „Walzbruder “ ist es von der 
Erkenntnis, daß er Keine Arbeit mehr 
bekommen kann, bis zu der AuffasSsung, 
daß er gar keine Arbeit mehr will, nur 
noch ein kleiner Schritt. 
ihr aus dem Wege geht, ist die Gefahr; 
wo es keine Arbeit mehr gibt, Arbeit ein 
Privileg wird, muß man ihr gar nicht 
aus dem Wege gehen, um keine zu 
haben. Sondern die Gefahr entsteht, 
daß er Sich auf die Dauer zufrieden 
gibt mit der schlechtesten Herberge, ge- 
wohnheitsmäßig im Freien Schläft, mit 
der Befriedigung Seiner primitivsSten 
leiblichen Bedürinisse, 
zines Nachtlagers; dann und wann mit 
dem Erbetteln eines Kleidungsstückes, 
- Stadt durchgeführt. 
denn es waren 
Nicht, daß er 
dem Auffinden. 
den Zweck Seines Lebens erfüllt Sieht. 
Er bekommt dann im Betteln Routine, 
weiß Sich immer wieder das Notwen“- 
digste zu beschaffen, und bei Gelegen 
heit wird der vom Feld gewohnte Mund- 
raub auf einem Markt, in einem Lebens- 
mittelgeschäft oder im Kaufhaus einer 
Die Ueberwindung 
der leicht folgenden ersten Strafe zer- 
bricht noch jedes Selbst- und Würde- 
gefühl und das Absinken in die Schicht 
der Bettler, der ehemaligen Verbrecher, 
Zuchthäusler und Gestrandeten vollzieht 
Sich, zumal da man in den Herbergen 
und Obdachlosenasylen deren Lebens- 
gewohnheiten Kennengelernt und Sich 
ihnen angepaßt hat. 
Zverst war man noch ausgerüstet mit 
den MitgliedsSbüchern der Organisa* 
tionen, holte Sich überall Unterstützung 
oder ein Ortsgeschenk ab, übernachtete 
noch in Jugendherbergen und blieb da 
durch noch in Kontakt mit den Organi- 
Sationen. Aber jetzt Sind die Kassen 
aller OrganisSationen leer, die Jugendher- 
bergen lassen Sich durch KoStenloses 
Nachtquartier ersetzen und die Behör- 
den lehnen zumeist jedes EntgegenKkom» 
men an Wanderburschen ab. Leicht 
verliert der Wandernde den Kontakt mit 
den Organisationen, den behördlichen 
Institutionen, denn überall findet er Ab- 
lehnung und wird aus Verärgerung zum 
Einzelgänger und Sonderling. Der Ver 
lust des Sozialen und individuellen Wert- 
gefühls bietet dem perSönlichen Ab- 
gleiten kein Ende. Darum ist die Walze 
heute eine Gefahr, an der Selbst der 
Stärkste Scheitern kann. 
Nichts kennzeichnet die Notlage der 
wandernden Jugend mehr als die Ver- 
anstaltung jener „KundenkKkon»- 
gresse', wie Sie vor kurzem Hamburg 
erlebte. Irgendein Ergebnis für die 
Tausende wandernder junger Menschen 
hatte dieser eigenartige „Kongreß“ na“ 
türlich nicht, auf dem eine hoffnungslose 
Vagabundengruppe lediglich versuchte, 
der „Walze“ heute noch einen roman“ 
tiSchen Schimmer zu verleihen -- ein 
Verbrechen, wenn dadurch wirklich noch 
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