Jugend auf der Landstraße
Es gab einmal eine Zeit, da ging' der
junge Bursche im Frühjahr auf die
„Walze“, um die Welt kennenzulernen,
irgendwo Arbeit und Brot, vielleicht eine
neue Heimat zu finden. Heute „walzt“
eine Masse von Zehntausenden junger
Menschen über die Landstraßen, die der-
einst auszogen, um Arbeit zu Suchen,
die Schönheit der Länder Kennenzuler-
nen, aber längst an der Natur kein In-
teresse mehr haben und die Hoffnung
auf Arbeit verloren haben. Es Sind nie
die Schlechtesten gewesen, die von ihren
oft zu engen Lebenskreisen hinaus in die
Welt zogen, aber unter den heutigen
Verhältnissen ist Selbst für die Besten
keine Möglichkeit vorhanden, irgendwo
Arbeit zu bekommen. Die Gefahr, ins
Landstreichertum zu versinken, den Kon-
takt mit der menschlichen Gesellschaft,
mit der Klasse, zu verlieren, ist unge
heuer groß. Während die „Walzenden“
einstmals noch hofiten, irgendwo eine
anständige Arbeit zu finden, ist es tür
Sie heute fast nicht mehr möglich, auch
nur einmal bei einem Bauer Hilfsarbeit
verrichten zu können;
immer die kleinen Bauern, die „walzend2
Kunden“ zu Erntearbeiten usw. beschäf-
tigten. Doch heute leiden gerade diese
ebenfalls unter der größten Not und
können nicht einmal. gegen Brot und
Obdach Menschen über längere Zeit be
Schäftigen. |
Für den „Walzbruder “ ist es von der
Erkenntnis, daß er Keine Arbeit mehr
bekommen kann, bis zu der AuffasSsung,
daß er gar keine Arbeit mehr will, nur
noch ein kleiner Schritt.
ihr aus dem Wege geht, ist die Gefahr;
wo es keine Arbeit mehr gibt, Arbeit ein
Privileg wird, muß man ihr gar nicht
aus dem Wege gehen, um keine zu
haben. Sondern die Gefahr entsteht,
daß er Sich auf die Dauer zufrieden
gibt mit der schlechtesten Herberge, ge-
wohnheitsmäßig im Freien Schläft, mit
der Befriedigung Seiner primitivsSten
leiblichen Bedürinisse,
zines Nachtlagers; dann und wann mit
dem Erbetteln eines Kleidungsstückes,
- Stadt durchgeführt.
denn es waren
Nicht, daß er
dem Auffinden.
den Zweck Seines Lebens erfüllt Sieht.
Er bekommt dann im Betteln Routine,
weiß Sich immer wieder das Notwen“-
digste zu beschaffen, und bei Gelegen
heit wird der vom Feld gewohnte Mund-
raub auf einem Markt, in einem Lebens-
mittelgeschäft oder im Kaufhaus einer
Die Ueberwindung
der leicht folgenden ersten Strafe zer-
bricht noch jedes Selbst- und Würde-
gefühl und das Absinken in die Schicht
der Bettler, der ehemaligen Verbrecher,
Zuchthäusler und Gestrandeten vollzieht
Sich, zumal da man in den Herbergen
und Obdachlosenasylen deren Lebens-
gewohnheiten Kennengelernt und Sich
ihnen angepaßt hat.
Zverst war man noch ausgerüstet mit
den MitgliedsSbüchern der Organisa*
tionen, holte Sich überall Unterstützung
oder ein Ortsgeschenk ab, übernachtete
noch in Jugendherbergen und blieb da
durch noch in Kontakt mit den Organi-
Sationen. Aber jetzt Sind die Kassen
aller OrganisSationen leer, die Jugendher-
bergen lassen Sich durch KoStenloses
Nachtquartier ersetzen und die Behör-
den lehnen zumeist jedes EntgegenKkom»
men an Wanderburschen ab. Leicht
verliert der Wandernde den Kontakt mit
den Organisationen, den behördlichen
Institutionen, denn überall findet er Ab-
lehnung und wird aus Verärgerung zum
Einzelgänger und Sonderling. Der Ver
lust des Sozialen und individuellen Wert-
gefühls bietet dem perSönlichen Ab-
gleiten kein Ende. Darum ist die Walze
heute eine Gefahr, an der Selbst der
Stärkste Scheitern kann.
Nichts kennzeichnet die Notlage der
wandernden Jugend mehr als die Ver-
anstaltung jener „KundenkKkon»-
gresse', wie Sie vor kurzem Hamburg
erlebte. Irgendein Ergebnis für die
Tausende wandernder junger Menschen
hatte dieser eigenartige „Kongreß“ na“
türlich nicht, auf dem eine hoffnungslose
Vagabundengruppe lediglich versuchte,
der „Walze“ heute noch einen roman“
tiSchen Schimmer zu verleihen -- ein
Verbrechen, wenn dadurch wirklich noch
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