Full text: Arbeiter-Jugend - 24.1932 (24)

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weimarischen 
Goethe 
Zu Seinem hundertsten Todestag 
Noch zu Lebzeiten Goethes gab es 
eine Generation vorwärtsgerichteter deut- 
SCher Jugend, die den allseits gefeierten 
„Olympier grimmig haßte. Niemand 
kleidete dieges fanatische „Nieder mit 
Goethe!“ in So unerbittliche Form wie 
Börne, der ihn einen „Knecht der Ver 
hältnisse , einen „feigen Philister “, einen 
„Kleinstädter Schalt, Seine Muse eine 
Dirne und die Kinder Seines Geistes 
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Bastarde Schmähte und unbarmherzig 
den Stab brach: „Goethe war ein Stabili» 
tätsnarr, und die Bequemlichkeit war 
Seine Religion. In dem Dichter des 
„raust“ Sah diese unbedingte Jugend 
nur die Exzellenz, den großherzoglich 
Staatsminister mit der 
würdevollen Geheimratshaltung und dem 
großen Ordensstern auf dem Frack, der 
Sich gegen Verfassung, PressSefreiheit 
und Judenbetreiung aussprach, die Be 
gnadigung politischer „Verbrecher“ als 
„törichte Schwachheit“ möißbilligte und 
in allem als Metternichs verruchter Hel- 
ierShelfer erschien. Aber nicht nur der 
Greis litt an Revoluiionsscheu und Um 
Sturzangst, nicht nur der gereifte Mann 
blickte verständnislos auf das gewaltigste 
Ereignis neuerer GesSchichte, die Staats- 
umwälzung in Frankreich, als auf eine 
„ürchterliche Bewegung und ein „gräß-» 
liches Unheil“, Sondern auch Schon der 
Jüngling, der die Mitlebenden „vom 
Wirbel bis zur Zehe Genie und Kraft und 
Stärke“ dünkte, lehnte politische Freiheit 
als „verworrene Willkür“ ab. Goethe 
fehlte eben jeder politische Nerv, weit 
mehr als Seinen ZeitgenosSsen Schiller, 
Lessing und Herder; er lebte nicht in 
der Geschichte, Sondern in der Natur; 
er faßte die MensSchen nie als Teil einer 
menschlichen Gesamtheit, einer Gesell- 
SChaftssSchicht, einer Klasse, einer Nation, 
SOndern immer nur iSoliert, als Einzel- 
wesen, als Individuum. „Der“ Mensch 
war inm alles, die MensSchheit nichts. 
Sicher entsprang es zum Teil Seiner na 
türlichen Anlage, daß ihn die atemrau- 
benden Begebenheiten Seiner Zeit, Statt 
ihn anzuziehen, in den entlegensten Win 
kel Scheuchten: „Wie Sich in der poli- 
tiSchen Welt irgendein ungeheuer Bedroh- 
liches hervortat, waif ich mich eigen- 
Sinnig auf das Entfernteste.“ Mehr Schuld 
freilich trugen die Verhältnisse, unter 
denen Sein Geist Sich bildete. In der 
zweiten . Hälfte des achtzehnten Jahr- 
hunderts gebrach es in Deutschland an 
jeder größeren Gemeinschaft, in der 
Goethes dem Grenzz2nloSen zugewandter 
Sinn Sein Genüge hätte finden . können. 
Das Reich ein Schutthaufen, die Einzel 
Staaten jämmerliche Zwergdespotien, 
Statt eines frischen öffentlichen Lebens 
ein verkümmertes und verkrotztes Pri» 
vatleben, und das Bürgertum; dessen 
Säfte in den Adern des jungen Poeten 
gärten, ein hoffnungslos untertäniges 
Geschlecht baumwollener Zipfelmützen 
-- da ward Goethe auf das eigene Ich 
zurückgeworfen: „Das Ganze kümmert 
Sich nicht um uns, warum Sollten wir 
uns mehr als billig um das Ganze 
kümmern!“ - Sn 
Diese Sammlung allen Lichts im Brenn 
punkt des Ichs befähigte Goethe zur Er» 
füllung Seiner historisSchen Aufgabe, den 
in Stände eingekapSelten, durch 'Ueber-
	        
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