Full text: Pharus - 6.1915, Halbjahrband 1 (6)

Unterrichtliche Willensbildung. :: U 
schon jeder rechte Unterricht durch Erregung der Aufmerksamkeit, durch Nötigung 
zur Kraftentfaltung, durch Abweisung störender Assoziationen usw. unmittelbar 
willensbildend wirkt. Aber von dieser Wirkung des Unterrichts, die eine mehr 
allgemeine ist, soll hier nicht gesprochen werden. Hier sollen vielmehr Gelegenheiten 
aufgesucht werden, wo die Unterrichtstechnik der neueren Lehrkunst im einzelnen 
willensbildende Beeinflussung auszuüben gewillt ist. 
Alle geistige Leistungsfähigkeit beruht auf dem Selbstvertrauen. So wie 
kein Turnschüler den Sprung über die Schnur wagt, wenn er nicht das nötige 
Selbstvertrauen besitzt, so geht auch bei geistiger Arbeit der Schüler nicht an die 
Ueberwindung der Schwierigkeiten heran, wenn ihm das Selbstvertrauen fehlt. Jeder 
Willensakt wird aber unmittelbar durch das Selbstvertrauen des Wollenden beein 
flußt. Daher ist auf dem Gebiete der Lerntätigkeit ede Gelegenheit zu benützen, 
um der Pädagogik des Ermutigens auch im Unterrichtsbetriebe Raum zu 
gewähren. Daher ist es verfehlt, wenn der Lehrer beispielsweise das zusammen 
hängende Sprechen des Schülers fortwährend unterbricht oder mit hämischen Be 
merkungen durchsetzt; wer das tut, raubt dem Kinde das Selbstvertrauen und nimmt 
jedem kleinem Teilwollen, das sich in jedem Sprechakte offenbart, von vornherein die 
Kraft. Die Unterrichtstechnik kann fast auf allen Gebieten hierin noch viel leisten, um 
die Pädagogik des Ermutigens auf didaktischem Gebiete praktisch auszugestalten. Unser 
gesamter Unterricht ist vielfach noch zu sehr auf negativer Grundlage aufgebaut. Immer 
und immer wieder zeigt er dem Schüler sein Nichtkönnen und die Mangelhaftigkeit 
seiner Leistungen, ohne zu bedenken, welch willensbildender Kraft er sich dadurch selbst 
beraubt. — Im Zusammenhange mit dieser Ermutigung steht auch die Erziehung 
des Schülers zur Beharrlichkeit, die ebenfalls fleißig bei jeder paffenden Ge 
legenheit auf den verschiedenen Lehrgebieten gepflegt werden soll. Ein Beispiel 
hierfür aus dem Rechenunterrichte. Die Schüler der Mittelstufe sollen Reihen 
senkrecht untereinander stehender Zahlen addieren. Wie gering ist die willens 
bildende Kraft dieser Uebung, wenn sie nicht in einem Zug ausgeführt, sondern 
an beliebigen Stellen unterbrochen wird. Wenn das Kind etwa so rechnet: 
5 + 6=11-1-3 = 14 — Pause 1- 7 — Pause — = — Pause 21 usw., so 
sind die willensbildenden Kräfte, die dieser Unterricht auslöst, nur sehr gering. 
Wie ganz anders, wenn der Schüler angeleitet wird, in beharrlicher Konzentration 
der Aufmerksamkeit das Zusammenzählen einer Reihe unbedingt zu Ende zu führen, 
also — bei nur visuellem Auffassen der Addenden — die Addition in einem Zuge 
so ausführt: 5, 11, 14, 21, 26. Man glaube ja nicht, daß das nur dem Rechnen 
selbst zugute käme, nein, es steckt eine Willensghmnastik darin, die dem Kinde auch 
auf anderen Gebieten nützt. 
Seine willensbildende Kraft erreicht der Unterricht vielfach erst durch die rechte 
Uebung. Die Technik der rechten Uebung ist für den Fortschritt unserer Volks 
schuldidaktik mindestens ebenso wichtig wie die Technik der rechten Einführung des 
Neuen. Es ist merkwürdig, daß vielerorts als Gegenstand zu Lehrproben nur 
Einführungen neuer Stoffe benützt werden; als wenn sich im rechten Ueben die 
erziehlich-unterrichtliche Kraft des Lehrers nicht vielfach ebenso bewähren könnte 
als bei der Einführung. Sehr nutzbringend wirkt bei der Uebung für die Zwecke 
der Willensbildung schon die Reihenbildung. Wir wollen wieder ein Beispiel 
aus dem Rechenunterricht herausgreifen. Es steht das Vervielfachen zweistelliger
	        
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