Rundschau.
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die in ihrer hochmütigen insularen Be
schränktheit die Welt nur vom Standpunkte
des Herrschers und Ausbeuters anzusehen
gewohnt sind, und eine gewisse Neigung
haben, andere Völker als Vertreter einer
untergeordneten Gattung anzusehen, und
zwar nicht bloß die exotischen, sondern
auch die europäischen. Wie oft ist uns
das Beispiel der Engländer und auch
der Franzosen vorgehalten worden, wenn
es galt, den Stolz auf die nationale
Eigenart zu stärken und fremde Einflüsse
aus unser Kultur- und Gesellschaftsleben
abzuwehren! Gewiß, in diesem Bedürfnis,
Fremdes zu bewundern und nachzuahmen,
in dieser übertriebenen Anpassungsfähig
keit, die oft zur Verleugnung der eigenen
Volksart führt, liegt eine Schwäche un
seres Nationalcharakters. Es ist eine
Folge unserer geographischen Lage in
der Mitte der großen Kulturnationen;
es ist eine späte Nachwirkung unserer
geschichtlichen Stellung im Mittelalter,
wo Deutschland der Vorkämpfer und
Träger universaler Kulturideale war,
während Frankreich und England mehr
ihre nationale Eigenart ausbildeten; es
ist das Ergebnis unseres Zurückbleibens
hinter den westlichen Nachbarn in poli
tischer, gesellschaftlicher und literarischer
Bildung, wie es sich namentlich im 17.
und auch noch im 18. Jahrhundert gel
tend machte. Aber mit dieser Schwäche
hängt auch eine starke Seite der deutschen
Art zusammen: die Empfänglichkeit für
fremdes Volkstum, der Trieb, es zu
verstehen, sich in die fremde Eigenart
einzuleben, die Fähigkeit, das eigene
Wesen zu universalen Anschauungen aus
zuweiten, es über die beschränkte Sphäre
eines engherzigen Nationalismus zu
erheben zu dem Ideal allgemein mensch
licher Gesittung und Kultur . . .
Wir haben ein offenes Herz und
verständnisvolle Anerkennung für alles,
was in fremder Art und Sitte menschlich
wertvoll erscheint. Es ist eine schändliche
Lüge, wenn von englischer Seite die
Behauptung aufgestellt wird, wir wollten
in diesem Kriege alle fremde Kultur ver
nichten und einen öden Militärdespotismus
an deren Stelle setzen. Wer so etwas
erfinden oder gar glauben kann, be
weist, daß ihm die geistige Entwicklung
des modernen Europas ein unbekanntes
Ding ist.
Diesen weitherzigen, universalen Zug
des deutschen Wesens wollen wir uns
auch in der Zukunft bewahren. Unser
Volkstum wird aus diesem Kriege fester
und stärker hervorgehen, aber es wird
den Zusammenhang mit den Idealen der
Menschheit und die Achtung vor fremder
Eigenart nicht verlieren. Wir sind in
der glücklichen Lage, indem wir für unser
nationales Dasein kämpfen, zugleich die
höchsten sittlichen Güter zu verteidigen,
die allem Volks- und Staatsleben erst
den rechten menschlichen Wert verleihen."
Urieg und Volksbildung.
Im Anschluß an die frühere Zusammen
stellung zu dieser Frage (vgl. „Bildung
und Erziehung als Faktoren der Kriegs
tüchtigkeit", Jahrgang 1914, Heft 11,
S. 403) ist es von Interesse zu hören,
was Lehrer G. Menzel, der Bearbeiter
dieser Frage im Deutschen Lehrerverein,
hierüber im „Tag" jüngst vorzubringen
wußte.
„Sehr lehrreich ist", so schreibt er
nach dem Dezember-Heft der „Neuen
Bahnen", „die Ziffer über Analphabeten.
In Deutschland ist sie auf 0,05 vom
Hundert gesunken, in England beträgt
fie 1, in Frankreich 4, in Belgien über IO,
im europäischen Rußland 77 pZt. Ganz
fraglos ist ein Maßstab der Gesamtbil
dung des Volkes mit diesen sprechenden
Zahlen gegeben, sie führen auf das weite
Gebiet der Anstalten, die die Volks
bildung zu vermitteln haben.
In Frankreich besteht die allgemeine
Schulpflicht, freilich erst seit 1882, und
nach Menzels Ausführungen ist es noch
nicht gelungen, sie durchzuführen. Es
wird ein Wort des Abgeordneten Buisson
wiedergegeben, der im Jahre 1907 fest
stellte : Wenigstens 2000O junge Fran
zosen erreichen jährlich das 20. Lebens
jahr, ohne die geringste Spur eines
Unterrichtes aufzuweisen."
Die englische Volksschule, der deutschen
am meisten nahekommend, wird in ihren
Ergebnissen ungünstig beeinflußt durch
die Ausdehnung der gewerblichen Kinder
arbeit. Hören wir hier Menzel direkt:
„1910 zählte man 144 000 Volksschüler,
die regelmäßig außerhalb des Hauses
gegen Lohn in gewerblichen Betrieben
beschäftigt waren. Dazu kommt, daß noch
im Jahre 1909 rund 60 von Hundert