Full text: Pharus - 6.1915, Halbjahrband 1 (6)

„Ich plage beständig meinen Kopf mit dem Gedanken, daß Du keinen Vater 
und überhaupt niemand mehr hast, der Dich im ferneren Leben lenken und leiten 
kann; denn ich selbst, das weißt Du, tauge nicht dazu. Papa war daheim unser 
ein und alles. Jetzt, da er nicht mehr ist, wer wird da über Stephanie und Dir 
wachen?" 
Mt seinem Hellen Kopf und seinem steten Argwohn sah Luis sofort, daß dieser 
Satz nur einen Sinn haben konnte: Es handelte sich bei dieser hochwichtigen An 
gelegenheit, um derentwillen diese dringliche Reise unternommen werden mußte, 
offenbar um die Vorbereitung, ihm einen neuen Vater zu geben, der über die 
Kinder wachen und daheim ihnen wieder ihr ein und alles sein sollte. 
Oft schon hatte sich Luis bei dem Gedanken überrascht, daß seine Mutter wohl 
eines Tages wieder heiraten würde. Aus einem so recht kindischen Grunde hatte 
er an diese Möglichkeit geglaubt. Er dachte, man heirate, um das Leben zu 
genießen. Und weil er wußte, daß seine Mutter lediglich dem Vergnügen nach 
ging, schloß er daraus, daß sie es nicht lange als Witwe aushalten werde. 
Eines Tages hatte er während eines Spazierganges einen neu angekommenen 
Pater mit der unschuldigsten Miene von der Welt gefragt: „Pater, ist es eine 
Sünde, wenn ein Witwer eine zweite Ehe eingeht?" 
„Aber nein, törichter, kleiner Junge!" hatte der Ordensmann geantwortet. 
„Auch nicht, wenn er Kinder hat?" — „Nein, auch dann nicht." 
„Wie aber, wenn sie einen Mann heiratete, den eines ihrer Kinder nicht leiden 
kann, den dieses tödlich haßt? Dann beginge sie doch wohl eine Sünde, eine sehr 
schwere Sünde?" 
„Jedenfalls wäre es eine sehr große Unklugheit." 
„Weiter nichts?" 
Betroffen sah der Ordensmann den Knaben an. 
„Aber wozu brauchst du denn das alles zu wissen?" fragte er lachend. „Du 
bist ja der reinste spitzfindige Moralist!" 
Hätte er Luis' Verhältnisse gekannt, so hätten ihn diese sonderbaren Fragen 
sofort darauf gebracht, daß geheime Gedanken sein Herz bewegten. Zweifellos 
hatte der Knabe bereits die Wahrscheinlichkeit einer Verheiratung seiner Mutter 
mit Mister Murray geahnt. Und dieser Gedanke versetzte ihn in solche Wut, daß 
er ihn still für sich behielt, aus Furcht, daß P. Herbert oder Jose-Jesus ihm seinen 
Wunsch, dafür Rache zu nehmen, ausreden könnten. 
So hatte er denn auch beim Lesen dieses Briefes seiner Mutter nur den ein 
zigen Gedanken, wie er es sicher herausbringen könnte, ob nicht auch Mister 
Murray um die gleiche Zeit Sevilla verlasse. Wäre das aber der Fall, dann wollte 
Luis auf alle Weise und sei es auch mit Gewalt, die Abreise der Mutter verhindern. 
Aber wie konnte er sich hier im Penfionate über das Kommen und Gehen dieses 
Mister Murray unterrichten? Ah. richtig! Auf demselben Wege, den die Mutier 
gewählt hatte, um ihm ihren Brief zuzustellen: mit Hilfe des Schneiders! Wenn 
dieser Mann für die ganze feine Welt Sevillas liefert, dann mußte er auch den 
Engländer kennen, einen der elegantesten Gentlemen der Myrtenstadt; denn ein 
Mister Murray unternahm gewiß keine Reise und zumal keine solche Reise, ohne 
sich neue Anzüge nach der neuesten Mode mitzunehmen. Wer weiß? 
Drei Tage, nachdem der Schneider ihm das Maß für den Kommunionanzug
	        
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