Full text: Pharus - 6.1915, Halbjahrband 1 (6)

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Rundschau, 
Mühselige, Harte immer mehr vom Kinde 
ferngehalten werden. Die Schularbeit 
selbst soll immer „angenehmer" werden. 
Wir Lehrer müssen uns die Köpfe zer 
brechen, um ja alles recht „interessant" 
zu machen, damit das Kind gewillt ist, 
schön mitzutun. Ein solches Verfahren 
steht aber auch im ärgsten Widerspruch 
mit den Anforderungen, die später an 
den Menschen herantreten. Die meisten 
Kinder kommen nach der Volksschule in 
den anödendsten Fabrik- oder Detail 
geschäftsbetrieb, wo sich alles „Inter 
essante" aufhört und nur Ernst, Anspruchs 
losigkeit, Willigkeit verlangt wird. Wenn 
wir Lehrer also jetzt so sehr bemüht sind, das 
Kind zu „unterhalten" und unser Schul 
zimmer zu einer Art Variete umgestalten, 
so tun wir dem Kinde viel Uebles. Immer 
mehr von unseren Schulentlassenen ver 
fallen dem Müßiggang und der Arbeits 
flucht, weil sie durch das Vielerlei der 
Schule auf das ermüdende Einerlei der 
Berufspflicht zu wenig vorbereitet sind. 
Ein Hauptübel unserer Schule ist 
überhaupt, daß das erziehende Moment 
immer mehr in den Hintergrund tritt. 
Bitter ist es, wenn man es sagen muß: 
Wir Lehrer haben keine Zeit mehr, die 
Kinder zu erziehen. Unser Lehrplan ist 
so überfüllt von hohem Wissen, daß unsere 
Aufmerksamkeit und Kraft nur mehr 
darauf gehen kann, wie wir das gelehrte 
Zeug den Kindern einigermaßen plausibel 
machen können. Vor lauter Stoffzurecht- 
richten und Stoffzusammentragen haben 
wir keine Zeit mehr, über das Wichtigste 
unseres Berufes nachzudenken, nämlich 
darüber, wie wir das Kind durch unsere 
Arbeit bescheiden und klug, arbeitsfreudig 
und willig, geduldig und ausdauernd, 
verträglich und liebend machen können. 
Wir beschäftigen uns immer mehr mit 
uns und den Kindern fern liegenden 
Dingen, mit biologischen, entwicklungs 
geschichtlichen, chemischen und Physika 
lischen Untersuchungen, die uns und die 
Kinder auch nicht fördern, weil doch 
Zeit und Kraft zur wirklichen Vertiefung 
fehlen. Zur eigenen menschlichen Aus 
bildung, zur seelischen Verinnerlichung, 
zur Selbstbesinnung und Selbstzucht läßt 
uns diese Außenbeschästigung nicht mehr 
kommen. Und doch haben alle großen 
Erzieher der Menschheit allen Ernstes 
geglaubt, diese menschliche Selbsterziehung 
sei das Wichtigste für einen Menschen, 
der andere erziehen will. 
Wir sind schon längst keine Erzieher 
mehr, sondern nur mehr Unterrichter im 
schlimmsten Sinne des Wortes. Kinder 
erziehen kann man nur an einer ein 
fachen. schlichten Arbeit. An einer Arbeit, 
die wenig Klügeln und Tüfteln und Vor 
bereitungen verlangt, sondern nur ein 
fachstes, folgerechtes Tun. An einer 
Arbeit, die wenig Kenntnisse, aber um 
so mehr Gewöhnungen und Fertigkeiten 
erzeugt, die dem Kinde unverlierbar fürs 
Leben bleiben. Das exakte Wissen und 
Können schwindet aber bei uns immer 
mehr und an dessen Stelle tritt ein ober 
flächliches Meinen und Glauben, eine 
Allerweltsweisheit, die das Kind nur 
blasiert und vorlaut macht. Wie oft find 
mir von gediegenen Vätern die Worte zu 
Ohren gekommen: Ich habe in meiner ein 
fachen Volksschule mehr gelernt als meine 
Kinder jetzt lernen in der berühmten mo 
dernen Schule. Wenn Pestalozzi unseren 
Lehrplan zu Gesicht bekäme, der würde 
in Ewigkeit nicht erraten, daß dieses 
Buch das Arbeitsprogramm einer Volks 
schule wäre. Er würde uns vielleicht 
nur einen Satz entgegenschleudern, freilich 
hätten wir genug damit: „Die voreilende 
Entwicklung des Kopfes und Herzens 
zernichtet die wahren Kräfte des Men 
schen und macht aus deinen Kindern, 
was du selbst bist, wenn du vor un 
zeitigen Gelüsten die unreifen Früchte 
deines besten Baumes abpflückst und 
frissest." (Aus dem „Schweizerblatt", 34.) 
Unser Berufswirken würde auch an 
Ansehen wahrlich nichts einbüßen, wenn 
es wieder einfacher, unwissenschaftlicher 
würde. Was es an Scheinweisheit ver 
löre, gewänne es an Innerlichkeit. Men 
schen zu bilden, ist höchste Menschen 
tätigkeit, höchste Kunst, die königliche 
Kunst Platos. Und der einfachste Volks 
schullehrer, der an der wirklichen Ver 
edelung seiner Kinder arbeitet, tut etwas, 
was an Würde und Hoheit gleich ist 
dem Wirken eines edelsten Priesters, 
eines ersten Richters, eines tüchtigsten 
Professors. Denn auch diese Männer 
tun in ihrem Besten nichts anderes als 
an der Erhöhung des Menschen arbeiten. 
Bei dem Wulste des gegenwärtigen ge 
lehrten Betriebes ist aber ein solches 
Wirken unmöglich.
	        
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