Full text: Pharus - 5.1914, Halbjahrband 1 (5)

Gewissensbildung. 
von Universitätsprofessor Dr. li n e i b, Würzburg. 
3 Wischen Gewissensanlage und Gewissenstätigkeit unterscheiden die meisten 
Philosophen der verschiedensten Richtungen. Nur ist die Einzelauffassung 
der Dinge, die dazwischenliegen, sehr verschieden, und an Mißverständnissen 
in der Kritik der gegnerischen Anschauung fehlt es nicht. Daß im Gewissen 
ein Ich vorhanden ist, das vor oder nach der Handlung als Richter über 
sein eigenes Tun auftritt und sich als richtendes Ich von dem tätigen Ich 
unterscheidet, daran kann kein Zweifel sein. 
Nun interessiert uns gerade die Frage, ob dieses Ich nicht vielleicht doch 
ein uns fremdes ist, wie Wundt behauptet, nämlich das göttliche Ich? 
Sokrates schon glaubte, das Gewissen sei etwas Göttliches (Satjxövtov), eine 
Stimme, die, von Gott eingegeben, vom Bösen abhält und zum Guten an 
treibt. Er faßt dabei besonders das sogenannte vorhergehende Gewissen ins 
Auge. Allerdings wird ja auch bei uns noch das Gewissen die Stimme 
Gottes genannt. Allein es drückt sich keineswegs etwa der Gedanke damit 
aus, als ob etwas in unserer Natur wirke, das nicht sie selber ist. Nur 
darauf wird hingewiesen, daß die Gewissensanlage von Gott, dem Schöpfer 
unserer Natur, stammt, und daß er eben als Erstursache bei all unseren 
Tätigkeiten in der metaphysischen Sphäre mittätig ist. 
So ist also die eine Schwierigkeit, wonach man von seiten Andersdenkender 
glauben möchte, eine Gewissensbildung sei nach unserer Anschauung weder 
möglich noch notwendig, beseitigt. Auch uns ist unser Gewissen zunächst 
Naturanlage. Die Frage, ob diese Anlage von Gott stammt oder nicht, be 
rührt uns hier nicht. Tatsache ist und bleibt, daß sie als Anlage eben fort 
gebildet werden kann. Ueber das „Wie" später! 
Ein zweites Gegensätzliche zwischen uns und Andersdenkenden, welches 
ebenfalls die Frage nach der Gewisiensbildung berührt, ist die Auffassung 
des Wesens der Gewissensanlage. Die Scholastik hält fest, daß der Mensch 
von Natur aus die Fähigkeit besitzt, die obersten Grundsätze des sittlichen 
Handelns zu erkennen und aus ihnen untergeordnete Grundsätze abzuleiten. 
Wenn man von gegnerischer Seite darauf hinweist, es gebe ganze Völker 
ohne Gewisien,^ und diese hätten demnach von Natur aus eine solche An 
lage nicht, so müssen wir eben, von allem anderen abgesehen, darauf hin 
weisen, daß das Gewissen in der Richtung des Guten sowohl wie des Schlechten 
weiterausgebildet werden kann? 
* Ehik, II * 8 , 89. 
2 Z. B. Rse, Entstehung des Gewissens, Berlin 1885, 14 ff. Demgegenüber meint 
Elsenhans: „Die vorhandenen Zeugnisse bieten jedoch keinerlei sichere Grundlage dafür, daß 
es Völker gibt, bei welchen diejenigen psychologischen Vorgänge, die wir mit Gewissen be 
zeichnen, sich überhaupt nicht finden" (Wesen und Entstehung des Gewissens, Berlin 1894, 275). 
8 „Das naturmenschliche Gewissen redet infolge überlieferter Irrtümer und Unsitten 
Pharus V, Bd. 1, tz. 6. ZI
	        
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