Gewissensbildung.
von Universitätsprofessor Dr. li n e i b, Würzburg.
3 Wischen Gewissensanlage und Gewissenstätigkeit unterscheiden die meisten
Philosophen der verschiedensten Richtungen. Nur ist die Einzelauffassung
der Dinge, die dazwischenliegen, sehr verschieden, und an Mißverständnissen
in der Kritik der gegnerischen Anschauung fehlt es nicht. Daß im Gewissen
ein Ich vorhanden ist, das vor oder nach der Handlung als Richter über
sein eigenes Tun auftritt und sich als richtendes Ich von dem tätigen Ich
unterscheidet, daran kann kein Zweifel sein.
Nun interessiert uns gerade die Frage, ob dieses Ich nicht vielleicht doch
ein uns fremdes ist, wie Wundt behauptet, nämlich das göttliche Ich?
Sokrates schon glaubte, das Gewissen sei etwas Göttliches (Satjxövtov), eine
Stimme, die, von Gott eingegeben, vom Bösen abhält und zum Guten an
treibt. Er faßt dabei besonders das sogenannte vorhergehende Gewissen ins
Auge. Allerdings wird ja auch bei uns noch das Gewissen die Stimme
Gottes genannt. Allein es drückt sich keineswegs etwa der Gedanke damit
aus, als ob etwas in unserer Natur wirke, das nicht sie selber ist. Nur
darauf wird hingewiesen, daß die Gewissensanlage von Gott, dem Schöpfer
unserer Natur, stammt, und daß er eben als Erstursache bei all unseren
Tätigkeiten in der metaphysischen Sphäre mittätig ist.
So ist also die eine Schwierigkeit, wonach man von seiten Andersdenkender
glauben möchte, eine Gewissensbildung sei nach unserer Anschauung weder
möglich noch notwendig, beseitigt. Auch uns ist unser Gewissen zunächst
Naturanlage. Die Frage, ob diese Anlage von Gott stammt oder nicht, be
rührt uns hier nicht. Tatsache ist und bleibt, daß sie als Anlage eben fort
gebildet werden kann. Ueber das „Wie" später!
Ein zweites Gegensätzliche zwischen uns und Andersdenkenden, welches
ebenfalls die Frage nach der Gewisiensbildung berührt, ist die Auffassung
des Wesens der Gewissensanlage. Die Scholastik hält fest, daß der Mensch
von Natur aus die Fähigkeit besitzt, die obersten Grundsätze des sittlichen
Handelns zu erkennen und aus ihnen untergeordnete Grundsätze abzuleiten.
Wenn man von gegnerischer Seite darauf hinweist, es gebe ganze Völker
ohne Gewisien,^ und diese hätten demnach von Natur aus eine solche An
lage nicht, so müssen wir eben, von allem anderen abgesehen, darauf hin
weisen, daß das Gewissen in der Richtung des Guten sowohl wie des Schlechten
weiterausgebildet werden kann?
* Ehik, II * 8 , 89.
2 Z. B. Rse, Entstehung des Gewissens, Berlin 1885, 14 ff. Demgegenüber meint
Elsenhans: „Die vorhandenen Zeugnisse bieten jedoch keinerlei sichere Grundlage dafür, daß
es Völker gibt, bei welchen diejenigen psychologischen Vorgänge, die wir mit Gewissen be
zeichnen, sich überhaupt nicht finden" (Wesen und Entstehung des Gewissens, Berlin 1894, 275).
8 „Das naturmenschliche Gewissen redet infolge überlieferter Irrtümer und Unsitten
Pharus V, Bd. 1, tz. 6. ZI