Full text: Pharus - 5.1914, Halbjahrband 1 (5)

:: 530 :: 
Ermüdungsmessungen im Dienste der Schule. 
sich eine Trennung der Schüler nach ihrer Leistungsfähigkeit ermöglichen ließe. Ein 
in dieser Hinsicht glänzend durchgeführter Versuch aus der jüngsten Zeit kann wohl 
als nachahmenswert angesehen werden. Stadtschulrat Sickinger schuf in Mannheim 
ein Schulsystem mit Unterrichtsgruppen nach der gleichen Leistungsfähigkeit, sodaß 
in dieser Schule nicht mehr „Jedem dasselbe", sondern „Jedem das Seine" gegeben 
wird. Neben dem achtklassigen Hauptsystem läuft bis zur 6. Klasse parallel ein 
Fürder- oder Sonderklassensystem für die schwächeren Schüler, und von diesem aus 
zweigt sich für die unbegabtesten ein vierklassiges Hilfsschulsystem ab. Alle Schüler 
treten in die Normalklasse ein und dann erst beginnt die Scheidung. Der Stoff 
der Förderklassen ist so zugeschnitten, daß er das Wesentlichste des Stoffplanes der 
entsprechenden Klassen des Hauptsystems enthält. Dadurch ist es möglich, Schüler 
der Sonderklassen, deren Leistungskraft im Laufe der Jahre durch Gewöhnung und 
Uebung gewachsen ist, in die gleiche Klasse des Hauptsystems überführen zu können. 
In den Förderklassen wird jede Ueberanstrengung nach Möglichkeit vermieden. Sie 
dürfen nie mehr als 35 Schüler zählen; diese werden in zwei Abteilungen und 
halbstündigen Lektionen unterrichtet. Nur den tüchtigsten Lehrern werden diese 
Kinder anvertraut, sie begleiten auch die Schüler durch alle Klassen, lernen auf 
diese Weise die Individualität ihrer Schützlinge genau kennen und werden daher 
um so leichter die richtigen Mittel zu ihrer Behandlung und Leitung finden. Es 
liegen für unsere gesamte Schulpraxis so viel wichtige Fingerzeige in der ganzen 
Art und Weise dieses Schulbetriebes, daß sie sehr geeignet erscheinen, als Weg 
weiser zu dienen. Sie zeigen uns einen Pfad, auf dem wir die Kinder, ohne fie 
stark zu ermüden, zum gewünschten Ziele führen können. 
Der Lehrer wird all diesen schweren Aufgaben nur gewachsen sein, wenn er mit 
den psychologischen und hygienisch-physiologischen Tatsachen vertraut ist. Dann erst 
wird er beurteilen können, was zu erreichen ist und was vermieden werden muß. 
Zuletzt sei noch vom Standpunkte des Themas aus auf die Wichtigkeit einer 
guten Schulbank und auf die Verwerflichkeit einiger Schulstrafen hingewiesen. 
Sitzen ist keine Ruhehaltung, es erfordert Anstrengung, und mangelhafte Bänke 
bewirken eine schlechte Körperhaltung, deren Folge eine schnellere Ermüdung ist. 
Es ist daher notwendig, daß die Bänke nach hygienischen Grundsätzen gebaut find. 
Vor allen Dingen muß jeder Sitzplatz mit einer guten Rückenlehne versehen sein. 
Diese stützt den Körper und erleichtert ihm dadurch das anstrengende Sitzen. Auch 
langes Stehen ermüdet; deshalb ist es falsch, die Kinder zur Strafe längere Zeit 
aus der Bank heraustreten zu lassen. Schriftliche Strafarbeiten und das Nach 
sitzen sollten möglichst unterbleiben; denn durch solche Strafen wird den Kindern 
die Erholungszeit verkürzt. 
Und endlich noch eines. Wer aufmerksamen Auges und mitfühlenden Herzens 
den oft bedauernswerten, verwahrlosten Zustand der Schuljugend der untersten 
Stände sieht, der muß sich die Frage vorlegen: Darf die Schule müßig zusehen, 
wie die vielen hygienischen Mängel diesen Armen ihre Widerstandskraft 
untergraben, ihnen Fähigkeit und Lust zur Arbeit rauben und fie matt und müde 
machen? Nein, sie muß helfen! Ihr tatkräftiger Beistand tut sehr not. Kein 
Lehrer gehe daher achtlos an Bestrebungen vorüber, die geeignet sind, das körper 
liche und geistige Wohlbefinden der Kinder zu fördern. Nur ein gesunder Leib 
besitzt Kraft zur Arbeit; er allein vermag der Ermüdung leichter zu trotzen. Nicht
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.