Full text: Pharus - 5.1914, Halbjahrband 1 (5)

Rundschau. 
Moderne Jugend. (Ihre angeblichen 
„Licht"- und wirklichen Schattenseiten.) 
Im Hauptorgan des österreichischen 
Liberalismus, der Wiener,Neuen Freien 
Presse', fand ich kurz nacheinander zwei 
Feuilletons über die Jugend von heute. 
Das eine stimmt mit vollen Tönen ein 
Lob- und Preislied dieser Jugend an, 
das andere setzt diesem Hymnus Dämpfer 
auf, stimmt die Begeisterung für die 
heutige Jugend derart herab, daß sie 
fast in eine direkte Verurteilung der 
modernen Jugend umschlagen muß. 
Wenn wir beiden Feuilletons das rein 
Sachliche entnehmen, so wird man das 
wahre Bild der heutigen Jugend so 
ziemlich vor sich haben. Die Wahrheit 
steht auch hier wieder in der Mitte und 
zwar in der goldenen Mitte: es ergibt 
sich aus der Vergleichung, daß die Be 
urteilung der Jugend von heute, wie sie 
die christliche Pädagogik, von ihren ewig 
unveränderlichen Grundsätzen ausgehend, 
gibt, die richtige, der Wirklichkeit ent 
sprechende ist. Sie erkennt in der Jugend 
erziehung von heute eine durchweg ver 
werfliche oder wenigstens vielfach unge 
sunde Richtung bei manchen glücklichen, 
der Zeit und dem Fortschritt angepaßten 
Erziehungswerten ihres Systems. Wie 
verwerflich, wie ungesund die Richtung 
der sogenannten „modernen", d. h. von 
den Grundsätzen des Christentums los 
gelösten Pädagogik ist, wird aus jedem 
Satz des ersten Feuilletons von Siegfried 
Trebitsch über die „neue Jugend" er 
hellen. Ich will aber nur die Haupt 
stellen aus dem Wust der Phrasen heraus 
lösen, in den sie der Verfasser, um zu 
blenden und zu bluffen, gewickelt hat. 
Seine Hauptthese ist, daß aus unserer 
Jugend „tatsächlich neue Menschen 
herauswachsen". Was für Menschen? 
Hören wir das Loblied: Der „verwandelte 
Jüngling" scheint dank „beharrlicher Evo 
lution" „all der Gefahren Herr zu werden, 
von denen die Jugend sonst immer um 
droht war". Er besitzt jetzt einen „aus 
gebildeten, auf alle seelischen Zwischen 
fälle wohl vorbereiteten Selbstbewah 
rungstrieb". Die Liebe ist für ihn 
„kein gefährliches Spiel" mehr; denn 
die Phantasie „treibt ihn nicht mehr ins 
Schrankenlose", er kennt kein „unstill 
bares Sehnen, keine würgende Senti 
mentalität mehr, der eine Teil der 
Liebenden bleibt zumindest besonnen, 
wenn der andere sich an einem Taumel 
zu verschwenden fähig wäre"; denn auch 
das Mädchen von heute ist „durch den 
Sport an die tägliche Berührung mit 
dem männlichen Geschlechte gewöhnt 
worden, robuster und rechtzeitig beob 
achten zu lernen", das „junge Weib ist 
frühreif und nüchtern" geworden, es wird 
nicht mehr von einem verlogen schwär 
merischen Hang gefährdet". Auf allen 
Gebieten find ja heute „die Grenzen 
der Geschlechter verwischt"; die Frau kann 
sich auf allen Arbeitsgebieten des Mannes 
betätigen, „der Mann hat aufgehört, 
lediglich seines Geschlechtes wegen dem 
Weib zu imponieren und es zu unter 
jochen." Heute hat ein „dem Leben un 
endlich stärker zugewendetes Seelen- und 
Gefühlsweben das früher so verheerende 
Pubertätsfieber besänftigt und erlöst". 
Die Zeit ist vorbei, „wo aus Schmerz 
verratener Liebe" der Jüngling seinem 
Leben ein Ende macht." Die „große 
Verderberin, die Kurtisane, ist durch 
schaut und wird nur noch von den Reichen 
als käuflicher Luxusgegenstand im Vor 
übergehen aufgelesen". Selbst die „leicht 
fertigen Künstlerinnen find jetzt lediglich 
Mitglieder jener Berufszweige geworden, 
die weibliche Menschen ergreifen können, 
und nur von ihren Kunstleistungen, nicht 
von ihren persönlichen Reizen wird es 
abhängen", ob sie Erfolg haben. Man 
wird mit Recht „von einem Zeitalter der 
Frühreife" sprechen dürfen, oder auch 
vom „Zeitalter der gefestigten 
Menschen zwischen dreißig und 
vierzig". Die moderne Jugend hul 
digt dem „Idealismus des Fleisches und 
der Knochen (Hygiene), der aber der 
Seele zugute kommt". Dank dem „un 
getrübten Blicke können unsere Zwanzig 
jährigen schon dahin gelangen, wo in 
früheren Zeiten erst der gefestigte, ge 
reifte, mit Wunden und Narben besäte 
Mann stand". So Siegfried Trebitsch. 
Mit einem Worte: Nach ihm ist die 
heutige Jugend früher reif und sittlich 
gefestigt, seelisch und körperlich robuster 
als früher. Die Frühreife unserer Jugend 
wird ihm jeder zugeben; ob die Jugend 
aber früher sittlich gefestigt, oder in 
Wirklichkeit nur früher sittlich „abge-
	        
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