Full text: Wochenschrift für katholische Lehrerinnen - 37.1924 (37)

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Freiheit ist nicht Genuß, sondern Arbeit, unausgesetzte Arbeit an den großen Kulturaufgaben des ^ 
u modernen Staates. Mastasius Grün.) » 
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dieser ungeheuren Menge vorwärtsstoßender Menschen dampfende 
Zimmer lag nur noch im ungewissen Schein der Lampe vor den 
Heiligenbildern. Und immer kam noch neues Volk aus der Stadt 
herauf; Rußland selber schien zu kommen, das unbekannte Rußland, 
um seinen Dichter noch einmal zu sehen. Fast hätten sie sich ge 
prügelt zum Abschied von ihm. Zwei Tage später war das Be 
gräbnis. Auf zwanzig Tausend schützt man, die hinter dem Sarge 
gingen, durch ein Spalier von Hunderttausenden: Priester, Mönche, 
Studenten, Gymnasiasten, Schulkinder, Nihilisten und Nihilistinnen, 
jene am Plaid auf der Schulter, diese durch die kurzgeschorenen haare 
kenntlich, alle literarischen Vereine, die wissenschaftlichen Rorporationen, 
Abgesandte der Städte, die Raufmannschast Moskaus, Bauern, Land 
streicher und Bettler, ein Wald von Kreuzen, Fahnen und Kränzen; 
und in der Kirche wurde der Sarg von den kaiserlichen Prinzen, 
dem Unterrichtsminister und den Würdenträgern des Staates erwartet. 
Für jeden der Teilnehmer aber hatte das Erlebnis einen anderen 
geheimen Sinn: dem einen war es ein Triumphzug der Revolution 
durch die Stadt des Zaren, dem anderen eine Huldigung der Nation 
vor dem Genius des Vaterlandes, wieder anderen der Schmerz eines 
ganzen Volkes, den zu verlieren, an dem es sich erst selbst gefunden 
hatte. Noch mehr aber war es: auch alle die Namenlosen gingen 
mit, die sich sonst verkriechen, die Kinder „zufälliger" Familien, alle 
die „Beleidigten und Erniedrigten", die verstoßenen, die Rechtlosen 
hatten für einmal ein Recht, sich zu zeigen; ihr großer Tag war 
das Begräbnis Dostojewskis. Und so sieht Hermann Bahr in dem 
Begräbnis Dostojewskis den Beweis dafür, daß er, sei es durch sein 
Werk, sei es durch den hauch seines Wesens, erreicht hatte, jedem 
Russen etwas zu sein, daß durch ihn doch endlich wieder einmal der 
Beruf des Dichters erfüllt war. 
Die Geschichte der europäischen Literaturen erzählt uns von einer 
zweiten Totenfeier, an der ein junges Volk in vielleicht verhältnis 
mäßig noch größerem Ausmaße teilnahm, bei der alle Kreise eines 
Volkes vielleicht noch allgemeiner das Bedürfnis fühlten, einem toten 
Dichter die letzte Ehre zu geben. Es handelt sich um den flämischen 
Dichter Hendrik Tonscience, der gewiß nicht die Bedeutung eines 
Dostojewskis hat, nicht entfernt in dem Maße, wie er der Weltliteratur 
angehört, der aber von seinem Volke in allen seinen Schichten vielleicht 
noch mehr gekannt und gewiß nicht weniger geliebt wurde. Als 
1883, zwei Jahre nach Dostojewskis Tode, seine sterblichen Über 
reste in seinem geliebten Antwerpen zur letzten Ruhe bestattet wurden, 
gab das ganze Flamenvolk seinem Dichter die letzte Ehre; als man 
den Leichnam ins Grab gesenkt hatte, wurde er mit Erde aus allen 
Gauen Flanderns bedeckt? Bald darauf besuchte der Dichter pol 
de Mont das frische Grab; da fand er zwei Frauen aus dem Volke, 
von denen die eine zur anderen sagte: „Sollten jemals wohl auf 
ein Königsgrab soviel Kränze niedergelegt worden sein?", worauf 
die Angeredete erwiderte: „war dieser denn kein König?" 2 Zwei 
Jahre vorher, als ganz Belgien das Erscheinen der hundertsten Schrift 
von Tonscience in Brüssel feierte, hatte das Volk, Männer und 
Frauen, Greise und Jünglinge, ihm seine Liebe in ergreifender herz. 
lichkeit kundgegeben? Man kann sagen: der Dichter ist mit Erweisen 
der Liebe seines Volkes überschüttet worden. 
wenn wir uns diese Tatsachen erklären wollen, die Ursachen 
jener tiefen Liebe zweier Völker zu ihren Dichtern zu erkennen uns 
bemühen, so finden wir übereinstimmend bei beiden Dichtern eine 
Liebe zu dem Volke, dem jeder von ihnen angehört, ein tiefes Ver 
ständnis für dessen wert, einen leidenschaftlichen Drang, das Volk 
zum Bewußtsein seines besieren Selbst zu führen, einen unerschütter 
lichen Glauben an das Volk. Dostojewski hat dieser Überzeugung 
zumal in einer großen Rede beim Jubiläum Puschkins, des Be 
gründers der russischen Nationalliteratur, ein J§hr vor seinem Tode, 
begeisterten und begeisternden Ausdruck gegeben. 
„Die Völker Europas", so führte Dostojewski aus, „wissen ja 
nicht einmal, wie teuer sie uns sind. Und ich baue fest darauf, 
1 Jostes, Hendrik Tonscience. IN.-Gladbach 1917. S. 58. 
* Lbd. 5 5, » Lbd, S. 5 unö 6, 
daß wir in Zukunft, das heißt natürlich nicht wir. sondern die 
künftigen Nüssen, bereits alle ausnahmslos begreifen werden, daß 
ein echter Russe sein nichts anderes bedeutet, als sich bemühen, die 
europäischen Widersprüche in sich endgültig zu versöhnen, der euro. 
päischen Sehnsucht in der russischen allmenschlichen und alloereinenden 
Seele den Ausweg zu zeigen, in dieser Seele sie alle in brüderlicher 
Liebe aufzunehmen und so vielleicht das letzte Wort der großen 
allgemeinen Harmonie, des brüderlichen Einvernehmens aller nach 
evangelischem Gesetz Christi auszusprechen. Ich weiß, daß meine 
Worte, in der Begeisterung gesprochen, wie sie sind, übertrieben unö 
phantastisch erscheinen können. Run wohl, mögen sie es sein, aber 
ich bereue nicht, sie ausgesprochen zu haben. Sie mußten einmal 
ausgesprochen werden, und zwar gerade jetzt, im Augenblick unseres 
Triumphes, in dem Augenblick, wo wir unseren genialen Toten 
ehren, der gerade diesen Gedanken in seiner ganzen schöpfen» 
schen Kraft verkörperte, übrigens ist dieser Gedanke schon mehr 
als einmal geäußert worden. Ich habe daher gar nichts Neuer 
gesagt. — Am meisten wird man freilich daran Anstoß nehmen 
können, daß er allzu selbstbewußt scheinen konnte: „Was, uns, 
unserm bettelarmen, unkultivierten Lande fiele eine solche Aufgabe 
zu? Uns wäre es bestimmt, der ganzen Welt ein neues Wort 
zu sagen?" Ja, rede ich denn von ökonomischen Erfolgen, von 
Erfolgen der Schwertes und der Wissenschaft? Ich rede doch nur 
von der Brüderlichkeit der Menschen und davon, daß zur univer» 
salen brüderlichen Einigung das russische Volk vielleicht am meisten 
von allen anderen veranlagt und bestimmt ist, und daß ich in unserer 
Geschichte, in unseren begabten Männern und im schöpferischen Genius 
Puschkins die Beweise dafür sehe. Mag unser Land arm sein, aber 
dieses arme Land „durchwandert Christus in Bettlergestalt". Ja, 
warum sollten wir nicht trotz unserer Armut sein letztes Wort in 
uns tragen können? „hat nicht auch er im Stall in einer Krippe 
geruht?" 1 Man kann über die Richtigkeit dieser Auffassung ver» 
schiedener Meinung fein, das ist ohne Belang; das aber ist für 
jeden überzeugend, daß sich in dieser Prophetie ein glühendes Be» 
Kenntnis des Dichters zur Gemeinschaft feines Volkes aussprach unö 
zumal zu denen in seinem Volke, in denen er die echten Russen sah, 
in den gläubigen, demütigen Ehristen, und seine leidenschaftliche Ab» 
lehnung des weftlertums entsprang der Sorge um die Bewahrung 
des besten Erbteiles seines Volkes. In der Zivilisation der west» 
europäischen Völker sah er — und zwar mit Recht; anders Konnte 
er gegenüber allen in die Augen fallenden Erscheinungen des öffent 
lichen, politischen, sozialen, geistigen Lebens gar nicht sehen — die 
Trennung von Religion und Leben, den allgemeinen Abfall vom 
Ehristentum, die völlige Verweltlichung des Denkens, Fühlens unö 
Sirebsns. Die Besorgnis vor der Ansteckung seines Volkes mit diesem 
Geiste war der Ausfluß seines innigen Fühlens mit seinem Volke, 
dessen wahren wert er in Armut und Entbehrung, im Kerker und 
in der Verbannung kennen und schätzen gelernt halte, unter dessen 
Ausgestoßenen er, wie e? dankbar gesteht, „tiefe, starke und schöne 
Naturen gefunden" hatte, von „denen die einen Respekt einflößten» 
die anderen absolut schön waren." 2 Genau dasselbe Verhältnis 
zwischen Dichter und Volk sehen wir bei Hendrik Tonscience. In 
einem flämischen Schülertaschenbuche, KlasdaZdoselc genannt, das 
vom Verband Jong Vlaanderen herausgegeben wurde, stehen 
über einem schlichten Bilde des Dichters die wenigen Worte: „KN) 
leer de zyn volk lezen.“ 3 Damit ist in trefflicher Kürze gesagt, 
was Tonscience für das Volk der Flamen war: er gab ihm ein 
nationales Schrifttum und hob so die Bildung seines Volkes; es 
weckte in ihm die Lust zur Erlernung der Kunst des Lesens; ei 
gab ihm geistige Güter, deren Erwerb durch alle Glieder des Volkes 
Aufgabe und mächtiges Förderungsmittel der Volksbildung wurde. 
1 In Dostojewskis literarischen Schriften, angeführt bei Schinhofen, 
Literatur und Volksschule (Deutsche Schule und deutsches Volkstum an dek 
Saar. 3. Jhrg. Nr. 16 vom 5. 11. 1923). 
" Gurian, Dostojewski. Hochland 18. Ibrg. 2. Bd. S. 698. 
- Dies ist auch die Inschrift auf dem Denkmal Tonsciences in Ant» 
werpen.
	        
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