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Denn in diesem Schrifttum fanden die Flamen sich selbst wieder.
Die einzigartige volkspädagog'sche Wirkung Ton ciences hat ha-
welius ins rechte Licht gerückt, wenn er sein dichterisches Schaffen
also würdigt: „Die heldenträume vermählen sich mit der Idylle in
Coniciences'werK wie in seinem Leben. Das Volk, das er in seiner
bescheidenen Unwissenheit liebte, flößte ihm wettere Begriffe, edlere
Gefühle, eine glänzende Zukunft ein. Es zu unterrichten, zu ver
edeln, ihm eine Rolle in der Welt zu sichern, wurde seine Lebens-
aufgäbe. Nachdem er ihm den Spiegel der Familientugenden vor
gehalten, mutzte er ihm die Liebe zur humanitär, den modernen
Glauben an den Fortschritt, ehrgeiziges politisches Streben einflößen.
So erscheint uns die steile Lehaupiung begreiflich, in der Franz Ioftes
die Stellung Eonlciences zum Flamenstamm umschreibt: „Rein König
der Erde ist je von seinem Volke bis in die armseligste Lehmhütte
so geliebt und verehrt worden, keiner auch hat sich in all seinem
Denken so eins mit seinem Volke gewußt, wie Conscience." 2
Ganz von selbst gleitet der Blick unseres Geistes zur Geschichte
der Dichtung unseres Volkes hinüber, und wir halten Ausschau nach
einem deutschen Dichter, den solchermaßen das ganze Volk als seinen
Dichter anerkannt, verehrt und geliebt hat; aber wir werden ver
geblich suchen, vor einigen fahren fe-ere man bei uns den sechzigsten
Geburtstag Gerhart hauptmanns, und es beteiligten sich die höchsten
Würdenträger des Reiches, die Repräsentanten des deutschen Geistes
lebens und auch viele Männer und Frauen des Volkes, und der
Dichter wurde geehrt, wie keiner m deutschen Landen, seitdem die
deutsche Zunge klingt. Dennoch war diese Feier kein reiner 3u-
sammenkiang der Seelen. Richt das tiefinnerliche Bedürfnis nach
gemeinsamer F stesfreude in der Ehrung eines geliebten Dichters
batte die Menschen zusammengeführt, sondern eine Absicht, ein
Zweck: in einer Zeit innerer oockha ter Zerrissenheit wollte man
nach außen hin eine Volkseinheit zeigen und zur Geltung bringen,
d,e gar nicht da war, für die man erst warb. Viele blieben ab
seits oder waren nur aus taktischen Erwägungen bei der Sache;
zumal jene Deutschen, die sich zum Christentum bekennen, können
Gerharr Hauptmann nicht als ihren Dichter verehren und lieben.
Ruch die Frankfurter Goethewoche, von der so viel geredet und
geschrieben wurde, war mehr eine Demonstration als eine vom Herzen
geforderte und gefo.mte Kundgebung. Vertreter der jungen Gene
ration, wie Rlzons Paquer und Fritz v. Unruh, spurten es mtt
sicherem Ge'ühl, daß auch bei diesem Feste das aus der volksgemein,
schait urkräflig aufquellende Bedürfnis nach gemeinsamer Feier nicht
vorhanden war. S>e konnten darin, w»e etwa Leo Weismantel
diese Feste unserer Gebildeten kennzeichnet, nichts anderes sehen als
ausgedehnte Veranstaltungen der „Kunstkrerse", die mit dem Bedürfnis
e-ner „Cure" rechnen. Lagen die vmge bei der berühmten Schiller-
feier des Jahres 1859 wesentlich andrrs? Gewiß konnte damals
Gottfried Reller die flo'zen, hochgemuten Worte fingen:
„Und wo im wetten Reich des deutschen Wortes
und wo es wanderlustig hingezogen,
sich überm Meer Kraft und Gestalt zu suchen,
drei Männer sind, die nicht am Staube kleben,
da denken sie bewegt an Friecrich Schiller
und mit ihm an das Beste, was sie kennen."
Dem wackeren Schweizer waren diese Worte ehrlich gemeint. Dennoch
war die Feier mehr eine politische Kundgebung als eine geistige;
ste war nach den Jahren der Reaktion das erneute Bekenntnis frei-
beit'icher politischer Gesinnung, der erneute Ruf nach nationaipolitischer
Eulhett. Sie blieb auf die politisch regsamen Kreise beschrankt, als
deren Sprecher Gottfried Keller gelten konnte. D?e Schillerfeier des
Jahres 1905, zur hundertsten Wiederk-Hr des Codesrages, war nur
mehr eine Angelegenheit der Schulen, der Behörden; sie war von
oben angeordnet und weckte keinen tieferen Widerhall im Volke.
ts ist eben Schicksal des deutschen Volkes, daß die uns zeitlich,
geq'tig und sprachlich nahe Blütezeit seiner Dichtung nicht aus einem
das ganze Volk ergreifenden Geistesirühlmg hervorbrach, sondern zu
tiefst in einer geistigen Entwicklung steht, die mit jener tiefgreifenden,
durch Humanismus undRenaisiance verursachten Spaltung des deutschen
Geisteslebens anhebt. Goethes Lebenswerk ist, abgesehen von jenen
Dichtungen, die der junge, noch volkhast empfindende Stürmer und
1 Angeführt bei Jostes, Hendrik Lonscience. M.-tbladbach. 1917. §. 62.
• <cbö. S. 5.
Dränger schuf (Götz, Faust I. Teil), Dichtung aus der Loge für die
Loge, d. h. dichterischer Ausdruck höchstentwickelter persönlichkeits-
Kultur, der sich in erster Linie an Menschen von ausgesprochen indi
vidualistischer Geisteshaltung wendet, an Menschen, die sich im innersten
Grunde ihres Denkens und Fühlens von der Volksgemeinschaft los
gelöst haben, wir wollen gewiß die sittliche höhe und Reinheit
und künstlerische Vollendung einer Dichtung wie Iphigenie auf Tauris
nickt verkleinern, können aber auch nicht daran vorbei sehen, daß
auch ste auf dem Glauben ruht, alle menschlichen Gebrechen seien
durch reine Menschlichkeit zu sühnen, daß ihr Dichter von der Ent-
sühnung des Menschengeschlechts durch den Opfertod Lhristi am Kreuze
nichts wissen wollte, daß das Kreuz ihm ein unverständliches und
unsympathisches Zeichen war. Ja, so fremd stand Goethe der christ
lichen Gedankenwelt, so völlig übersah er auch die Wirkungen der
Christentums auf das Leben seines eigenen Volkes, auf desien gei
stige und moralische Entwicklung, so sehr abgespalten vom christlich-
öeutschen vo.kstume und damit vom Organismus der Volksgemein
schaft lebte er, daß er sich in „Dichtung und Wahrheit" zu der
ungeheuerlichen Behauptung versteigen konnte, die Schriften Gellerts
seien „lange Zeit das Fundament der deutschen sittlichen Kultur ge-
wesen." Die neueuropäisch - liberale Bildung, die durch Goethes
Lebenswerk in Deutschland zum Siege geführt wurde, beherrschte
das deutsche Geistesleben bis auf unsere Tage, und das dichterische
Schassen der Nation wurde notwendig künstlerische Formung bürger
lich. individualistischen Geistes, schließlich nur mehr eine Literatur
der geistig Entwurzelten, eine Literatur für dekadente Literaten.
In der Tat! Was bedeuten die dramatischen Werke der wede-
kind und Schnitzler, die lyrischen Gebilde von Hugo v. Hofmanns-
thal, Rainer Maria Rilke, MaximUian vauthendey, Wilhelm
o. Scholz, die Romane und Novellen von Ricarda huch oder
Friedrich huch, von Hermann Hesse, Cmil Strauß oder Eduard
v. Keyserling, um nur einige der gefeiertsten Namen zu nennen,
was bedeuten sie für die deutsche Volkskultur, was helfen sie
uns bei der Losung der Ausgaben, unter deren Last heute alle
jene stöhnen, die sich für ihr Volk verantwortlich fühlen? Diese
Dichter tauchen in rätselhafte Abgründe der menschlichen Seele, ge
stalten zarteste Naturstimmungen in erlesener Feinheit der Form,
beschäftigen sich ausfallend gern mit den Schmerzen und dumpfen
Nöten, von denen überempfindsame, krankhaft reizbare Knaben-
naturen in den Lntwicklungsjahren betroffen find, oder ste gefallen
sich gar in der lustweckenden Darstellung sittlicher Cntartungserschel-
nungen. Sie gaben uns eine pathologisch vielleicht aufschlußreiche
und intereffante, ästhetisch raffinierte durchgebildete Literatur. Aber
es ist auch, wenn wir den Sachverhalt mit den nüchternen, klaren,
aber treffenden Worten des Hirtenschreibens der deutschen Bischöfe
vom Allerheiligenfeste 1917 kennzeichnen wollen, zum nicht geringen
Teile „eine verkommene Literatur, die in gemeingefährlicher weise
ihr Spiel und ihren Spott treibt mit dem, was die erste Lebens-
quelle und Lebenskraft des Staates ist, die das Laster verherrlicht,
den Ehebruch in Schutz nimmt, die Würde der Frau schändet."
Und würdigen wir das Lebenswerk eines so weithin anerkannten
Schriftstellers wie Thomas Mann! Gewiß offenbart sich in seinem
gesamten Schaffen eine vornehme Geisteshaltung. Aber es ist doch
seltsam, ja uns unverständlich, daß dieser Meister des deutschen Prosa
epos, in seinen dichterischen Werken schier achtlos an der Frage vor-
beigeht, die uns heute das Problem der Probleme zu sein scheint,
an der sozialen Anarchie im Bereiche der kapitalistischen Zivilisation.
Seine „Betrachtungen eines Unpolitischen", in denen er zu politischen
Zeitfrayen Stellung nimmt, in denen er mit seinen scharfen Angriffen
gegen den Zivilisationsliteraten die Seinsform und das wirken seiner
eigenen Persönlichkeit in Frage stellt, sind schließlich doch nichts
anderes als eine Rechtfertigung seiner persönlichen Haltung während
des Krieges, also vorwiegend ein rein persönliches Bekenntnis. In der
Sammlung seiner Abhandlungen und kleinen Aufsätze. „Rede und Ant-
wort" betitelt, finden wir geistreiche, feingeschliffene Gedanken über alle
möglichen Fragen: einen versuch über das Theater, Aufsätze über
Chamisso, den alten Fontane, Peter Altenberg, Gedenkreden aus
Friedrich huch und Eduard v. Keyserling, Briefe und Glückwünsche
an Verleger, Anmerkungen über einen Vortragskünstler, Antworten
auf Rundfragen über die Abschaffung des Abiturientenexamens, über
den Alkohol, die Erziehung zur Sprache; aber soziale Fragen werden
nicht mit einer Silbe erwähnt. Man braucht nur ein Buch wie den