Full text: Wochenschrift für katholische Lehrerinnen - 37.1924 (37)

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Denn in diesem Schrifttum fanden die Flamen sich selbst wieder. 
Die einzigartige volkspädagog'sche Wirkung Ton ciences hat ha- 
welius ins rechte Licht gerückt, wenn er sein dichterisches Schaffen 
also würdigt: „Die heldenträume vermählen sich mit der Idylle in 
Coniciences'werK wie in seinem Leben. Das Volk, das er in seiner 
bescheidenen Unwissenheit liebte, flößte ihm wettere Begriffe, edlere 
Gefühle, eine glänzende Zukunft ein. Es zu unterrichten, zu ver 
edeln, ihm eine Rolle in der Welt zu sichern, wurde seine Lebens- 
aufgäbe. Nachdem er ihm den Spiegel der Familientugenden vor 
gehalten, mutzte er ihm die Liebe zur humanitär, den modernen 
Glauben an den Fortschritt, ehrgeiziges politisches Streben einflößen. 
So erscheint uns die steile Lehaupiung begreiflich, in der Franz Ioftes 
die Stellung Eonlciences zum Flamenstamm umschreibt: „Rein König 
der Erde ist je von seinem Volke bis in die armseligste Lehmhütte 
so geliebt und verehrt worden, keiner auch hat sich in all seinem 
Denken so eins mit seinem Volke gewußt, wie Conscience." 2 
Ganz von selbst gleitet der Blick unseres Geistes zur Geschichte 
der Dichtung unseres Volkes hinüber, und wir halten Ausschau nach 
einem deutschen Dichter, den solchermaßen das ganze Volk als seinen 
Dichter anerkannt, verehrt und geliebt hat; aber wir werden ver 
geblich suchen, vor einigen fahren fe-ere man bei uns den sechzigsten 
Geburtstag Gerhart hauptmanns, und es beteiligten sich die höchsten 
Würdenträger des Reiches, die Repräsentanten des deutschen Geistes 
lebens und auch viele Männer und Frauen des Volkes, und der 
Dichter wurde geehrt, wie keiner m deutschen Landen, seitdem die 
deutsche Zunge klingt. Dennoch war diese Feier kein reiner 3u- 
sammenkiang der Seelen. Richt das tiefinnerliche Bedürfnis nach 
gemeinsamer F stesfreude in der Ehrung eines geliebten Dichters 
batte die Menschen zusammengeführt, sondern eine Absicht, ein 
Zweck: in einer Zeit innerer oockha ter Zerrissenheit wollte man 
nach außen hin eine Volkseinheit zeigen und zur Geltung bringen, 
d,e gar nicht da war, für die man erst warb. Viele blieben ab 
seits oder waren nur aus taktischen Erwägungen bei der Sache; 
zumal jene Deutschen, die sich zum Christentum bekennen, können 
Gerharr Hauptmann nicht als ihren Dichter verehren und lieben. 
Ruch die Frankfurter Goethewoche, von der so viel geredet und 
geschrieben wurde, war mehr eine Demonstration als eine vom Herzen 
geforderte und gefo.mte Kundgebung. Vertreter der jungen Gene 
ration, wie Rlzons Paquer und Fritz v. Unruh, spurten es mtt 
sicherem Ge'ühl, daß auch bei diesem Feste das aus der volksgemein, 
schait urkräflig aufquellende Bedürfnis nach gemeinsamer Feier nicht 
vorhanden war. S>e konnten darin, w»e etwa Leo Weismantel 
diese Feste unserer Gebildeten kennzeichnet, nichts anderes sehen als 
ausgedehnte Veranstaltungen der „Kunstkrerse", die mit dem Bedürfnis 
e-ner „Cure" rechnen. Lagen die vmge bei der berühmten Schiller- 
feier des Jahres 1859 wesentlich andrrs? Gewiß konnte damals 
Gottfried Reller die flo'zen, hochgemuten Worte fingen: 
„Und wo im wetten Reich des deutschen Wortes 
und wo es wanderlustig hingezogen, 
sich überm Meer Kraft und Gestalt zu suchen, 
drei Männer sind, die nicht am Staube kleben, 
da denken sie bewegt an Friecrich Schiller 
und mit ihm an das Beste, was sie kennen." 
Dem wackeren Schweizer waren diese Worte ehrlich gemeint. Dennoch 
war die Feier mehr eine politische Kundgebung als eine geistige; 
ste war nach den Jahren der Reaktion das erneute Bekenntnis frei- 
beit'icher politischer Gesinnung, der erneute Ruf nach nationaipolitischer 
Eulhett. Sie blieb auf die politisch regsamen Kreise beschrankt, als 
deren Sprecher Gottfried Keller gelten konnte. D?e Schillerfeier des 
Jahres 1905, zur hundertsten Wiederk-Hr des Codesrages, war nur 
mehr eine Angelegenheit der Schulen, der Behörden; sie war von 
oben angeordnet und weckte keinen tieferen Widerhall im Volke. 
ts ist eben Schicksal des deutschen Volkes, daß die uns zeitlich, 
geq'tig und sprachlich nahe Blütezeit seiner Dichtung nicht aus einem 
das ganze Volk ergreifenden Geistesirühlmg hervorbrach, sondern zu 
tiefst in einer geistigen Entwicklung steht, die mit jener tiefgreifenden, 
durch Humanismus undRenaisiance verursachten Spaltung des deutschen 
Geisteslebens anhebt. Goethes Lebenswerk ist, abgesehen von jenen 
Dichtungen, die der junge, noch volkhast empfindende Stürmer und 
1 Angeführt bei Jostes, Hendrik Lonscience. M.-tbladbach. 1917. §. 62. 
• <cbö. S. 5. 
Dränger schuf (Götz, Faust I. Teil), Dichtung aus der Loge für die 
Loge, d. h. dichterischer Ausdruck höchstentwickelter persönlichkeits- 
Kultur, der sich in erster Linie an Menschen von ausgesprochen indi 
vidualistischer Geisteshaltung wendet, an Menschen, die sich im innersten 
Grunde ihres Denkens und Fühlens von der Volksgemeinschaft los 
gelöst haben, wir wollen gewiß die sittliche höhe und Reinheit 
und künstlerische Vollendung einer Dichtung wie Iphigenie auf Tauris 
nickt verkleinern, können aber auch nicht daran vorbei sehen, daß 
auch ste auf dem Glauben ruht, alle menschlichen Gebrechen seien 
durch reine Menschlichkeit zu sühnen, daß ihr Dichter von der Ent- 
sühnung des Menschengeschlechts durch den Opfertod Lhristi am Kreuze 
nichts wissen wollte, daß das Kreuz ihm ein unverständliches und 
unsympathisches Zeichen war. Ja, so fremd stand Goethe der christ 
lichen Gedankenwelt, so völlig übersah er auch die Wirkungen der 
Christentums auf das Leben seines eigenen Volkes, auf desien gei 
stige und moralische Entwicklung, so sehr abgespalten vom christlich- 
öeutschen vo.kstume und damit vom Organismus der Volksgemein 
schaft lebte er, daß er sich in „Dichtung und Wahrheit" zu der 
ungeheuerlichen Behauptung versteigen konnte, die Schriften Gellerts 
seien „lange Zeit das Fundament der deutschen sittlichen Kultur ge- 
wesen." Die neueuropäisch - liberale Bildung, die durch Goethes 
Lebenswerk in Deutschland zum Siege geführt wurde, beherrschte 
das deutsche Geistesleben bis auf unsere Tage, und das dichterische 
Schassen der Nation wurde notwendig künstlerische Formung bürger 
lich. individualistischen Geistes, schließlich nur mehr eine Literatur 
der geistig Entwurzelten, eine Literatur für dekadente Literaten. 
In der Tat! Was bedeuten die dramatischen Werke der wede- 
kind und Schnitzler, die lyrischen Gebilde von Hugo v. Hofmanns- 
thal, Rainer Maria Rilke, MaximUian vauthendey, Wilhelm 
o. Scholz, die Romane und Novellen von Ricarda huch oder 
Friedrich huch, von Hermann Hesse, Cmil Strauß oder Eduard 
v. Keyserling, um nur einige der gefeiertsten Namen zu nennen, 
was bedeuten sie für die deutsche Volkskultur, was helfen sie 
uns bei der Losung der Ausgaben, unter deren Last heute alle 
jene stöhnen, die sich für ihr Volk verantwortlich fühlen? Diese 
Dichter tauchen in rätselhafte Abgründe der menschlichen Seele, ge 
stalten zarteste Naturstimmungen in erlesener Feinheit der Form, 
beschäftigen sich ausfallend gern mit den Schmerzen und dumpfen 
Nöten, von denen überempfindsame, krankhaft reizbare Knaben- 
naturen in den Lntwicklungsjahren betroffen find, oder ste gefallen 
sich gar in der lustweckenden Darstellung sittlicher Cntartungserschel- 
nungen. Sie gaben uns eine pathologisch vielleicht aufschlußreiche 
und intereffante, ästhetisch raffinierte durchgebildete Literatur. Aber 
es ist auch, wenn wir den Sachverhalt mit den nüchternen, klaren, 
aber treffenden Worten des Hirtenschreibens der deutschen Bischöfe 
vom Allerheiligenfeste 1917 kennzeichnen wollen, zum nicht geringen 
Teile „eine verkommene Literatur, die in gemeingefährlicher weise 
ihr Spiel und ihren Spott treibt mit dem, was die erste Lebens- 
quelle und Lebenskraft des Staates ist, die das Laster verherrlicht, 
den Ehebruch in Schutz nimmt, die Würde der Frau schändet." 
Und würdigen wir das Lebenswerk eines so weithin anerkannten 
Schriftstellers wie Thomas Mann! Gewiß offenbart sich in seinem 
gesamten Schaffen eine vornehme Geisteshaltung. Aber es ist doch 
seltsam, ja uns unverständlich, daß dieser Meister des deutschen Prosa 
epos, in seinen dichterischen Werken schier achtlos an der Frage vor- 
beigeht, die uns heute das Problem der Probleme zu sein scheint, 
an der sozialen Anarchie im Bereiche der kapitalistischen Zivilisation. 
Seine „Betrachtungen eines Unpolitischen", in denen er zu politischen 
Zeitfrayen Stellung nimmt, in denen er mit seinen scharfen Angriffen 
gegen den Zivilisationsliteraten die Seinsform und das wirken seiner 
eigenen Persönlichkeit in Frage stellt, sind schließlich doch nichts 
anderes als eine Rechtfertigung seiner persönlichen Haltung während 
des Krieges, also vorwiegend ein rein persönliches Bekenntnis. In der 
Sammlung seiner Abhandlungen und kleinen Aufsätze. „Rede und Ant- 
wort" betitelt, finden wir geistreiche, feingeschliffene Gedanken über alle 
möglichen Fragen: einen versuch über das Theater, Aufsätze über 
Chamisso, den alten Fontane, Peter Altenberg, Gedenkreden aus 
Friedrich huch und Eduard v. Keyserling, Briefe und Glückwünsche 
an Verleger, Anmerkungen über einen Vortragskünstler, Antworten 
auf Rundfragen über die Abschaffung des Abiturientenexamens, über 
den Alkohol, die Erziehung zur Sprache; aber soziale Fragen werden 
nicht mit einer Silbe erwähnt. Man braucht nur ein Buch wie den
	        
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