Full text: Wochenschrift für katholische Lehrerinnen - 37.1924 (37)

Mit monatlicher Beilage .Die Junge Lehrerin^. 
Nr. \7 - 37. Jahrgang Paderborn, 5. Mai X92$ 
Inhalt: Antz. Volk unb Dichtung (Schluß) S. 113. hüsemann, fjaupt» 
Versammlung u. Presse 5.115. Schulz, „Seht, wie die Tage sich sonnig ver 
klären" S. 11b. Hornung, Var krbeitsschulprinzip im Religionsunterricht 
S. 116. Meinungsaustausch: haurwirtschaftlicher Unterricht S. 117 
Ist dar wahr? S. 118. Berichtigung. Lehrerin im Rheinlande. Billiger 
Aufenthalt tn GberSsterreich. Abfindungssumme. Au» der Zeit: Besold. 
b. Gewervelehreriunen. L -L-R. Trier. Besoldungsgesetz Danzig. Amt 
liches: Zulassung von Lehrern zum Unioersitätsstudium. Anwendung der 
Leichsgesetzer über relig. Umdererziehung. Au» unserem verein: vor- 
läufige Tagesordnung f. d. Hauptversammlung. Anträge. Unterstiltzungs- 
Kasse. Delegierte. Kn die veretnslettung. Die Mittelschullehrerinnen. Jahre», 
bericht 1923. Sammlerinnen. Heime. Bezirk», «nd Sweigvereine. 
Merktafel. 
Volt Md Dichtung. 
von Joseph Antz, Rreirschulrat tn Andernach. 
(Schluß.) 
wie bedeutungsvoll erscheint uns da die liebevolle Arbeit der 
Vrentano und Arnim, Gör res und Schwab, Jakob und Wilhelm 
Grimm um die Erhaltung, Sichtung und Erneuerung der deutschen 
Volksdichtung! Nun betrachten wir das Märchen nicht als Harm, 
lose Rinderdichtung, sondern, wie der junge MöriKe sagte, als »die 
Blume alles menschlich Schönen auf der Welt", oder wie ein Märchen- 
dichter unserer Tage (Wilhelm Matthießen) sich äußerte, als einen 
Ruf und ein Licht aus einer besseren Welt. Mit gutem Bedacht 
wagen wir die Behauptung, daß die Rinder- und Hausmärchen der 
Brüder Grimm in einer so schönen, ungekürzten Ausgabe im Bücher- 
schätze des deutschen Hauses ebenso einen Ehrenplatz einnehmen müssen 
wie Goethes Zaust. Wir sehen eine wesentliche und gebieterische 
Forderung aus der Idee der deutschen Volksbildung, d. h. Bildung 
der Deutschen zu ihrer Volkheit, nicht erfüllt, solange man den großen 
»rationalpädagogischen wert des Volksmärchens nicht erkennt und 
wirksam werden läßt. Auch alle anderen Gattungen der Volkspoeste 
müssen von ihrer Aschenbrödelstellung erlöst werden. Die Sage ist 
uns, wie Seidenfaden sagt, eine vichtgattung, in der unser Volk 
seine Geschichte als Schicksal erlebt. Im Schwank sehen wir köst- 
liche Äußerungen des deutschen Humors, die Fähigkeit der deutschen 
Menschen, Stände und Stämme, ihre Schwächen mit scharfem Blick 
zu erkennen und herzhaft, harmlos darüber zu lachen. Die Legenden 
sind uns anmutige Blumenranken, die das fromme volksgemüt um 
die Heldengestalten der religiösen Vorzeit gewoben hat. In den 
ölten Volksbüchern von Genovefa und Grifeldir, Magelona und 
Melusina, dem Doktor Faustus und dem ewigen Juden, den vier 
heymonskindern und den sieben weisen Meistern sehen wir präch. 
tige Leistungen kraftvoller Volksepik, eigenartig durch merkwürdig 
kühne Mischung Märchen-, sagen-, legenden- und schwankhaster Motive. 
Im volksliede Horen wir Worte und Töne, die uns so schlicht und 
vertraut anmuten, als seien sie aus unserem eigenen Blut und Herzen 
geflossen, wir verstehen nun, daß es sich bei den Bestrebungen 
der Romantiker nicht um ein Auskramen und Auffrischen alter 
Kuriositäten, sondern um ein Freilegen verschütteter Duellen handelt, 
daß es ihnen ln erster Linie nicht auf wissenschaftliche Erforschung 
des deutschen Altertums ankam, sondern darauf, dem ermatteten 
volksgeifte nährende Rräfte aus seiner eigenen Wesen-substanz zu- 
Zuführen. »Var deutsche Leben sollte aus seinen verschütteten, ge 
heimnisvollen wurzeln wieder frisch ausschlagen, das ewig Alte und 
Neue wieder zu Bewußtsein und Ehre kommen" (Eichendorff). — 
Solches Bemühen um Erhaltung und Wiederherstellung unserer 
geistigen volksgesundheit führt uns dazu, alle Werke und Schöpfer 
unseres Schrifttums darauf abzuwägen und anzusehen, ob sie uns wesen- 
hafte werte zu bieten haben, die in Wahrheit unserem geistigen 
Erbgute einverleibt zu werden verdienen, die unsere religiösen und 
sittlichen votkrkräfte zu nähren und zu verjüngen vermögen, wenn 
wir solche Maßstäbe etwa an die Meister der deutschen Novelle an 
legen, so müffen manche hochgefeierte Größen, wie etwa Conrad 
Ferdinand Merger oder Isolde Rurz oder Paul heqse zurücktreten, 
und mögen ste eine literarische Runstform mit noch so großer Virtuosität 
gepflegt haben. Venn der Gehalt ihrer Werke bedeutet wenig oder 
gar nichts für dle Erhaltung und Förderung deutscher Art. wir 
werden auch unter dem reichen Lebenswerke einer Gottfried Reller 
genaue Musterung hatten und manche Werke, in denen eine unchrist 
liche venkungsweife versteckt oder auch unverhüllt zur Geltung kommt, 
unbedingt ablehnen, wollen aber gern und dankbar jene Gaben 
felnes Schaffens anerkennen und hinnehmen, die, wie etwa „Martin 
Salander" oder »Dar Fähnlein der sieben Aufrechten" bürgerliche 
Tüchtigkeit, sittlichen Lebensernst gewinnend gestatten, oder die den 
frischen Humor der Dichters, wie »Die drei gerechten Rammacher", 
„Rleider machen Leute", »pankraz der Schmoller", so übermütig 
und erquickend aufleuchten taffen. Auch bei dem so gerne gelesenen 
Theodor Storm können wir nicht daran vorbeisehen, daß seine 
Weltanschauung nach der theoretischen Seite hin nicht die christliche 
war; aber wir fteuen uns doch, daß er das Erbgut christlicher Ge- 
sittung, daß er zumal den Segen, die weihe und Schönheit des 
Familiengedankens zu schätzen gewußt und in manchem feinen Werke 
anmutig und herzerftischend zu gestalten wußte. Ganz ungetrübte 
Freude gewährt uns das reiche Lebenswerk eines Adalbert Stifter, 
viel Erquickender und Auferbauliches finden wir bei Wilhelm Heinrich 
Riehl, bei dem zu wenig bekannten und geschätzten Franz Traut- 
mann, bei so kernigen, aber wenig genannten Erzählern wie Heinrich 
Steinhaufen, Adolf Schmitthenner oder WUHelm Speck. Groß und 
bedeutungsvoll, echt und ursprünglich erscheint uns das Schaffen der 
Albert Bitziur, der sich auf den Titelblättern seiner Bücher Jeremias 
Gotthelf nannte, und wir beobachten heute mtt Genugtuung, wie 
selbst ausgesprochene Gegner seiner christlich-konservativen Welt- 
und Lebensanschauung (Ricarda huch)* ihm den Tribut der ehrlichen 
Anerkennung nicht versagen können. Als ein trefflicher Meister und 
treuer Volkspfleger erscheint uns auch der alte Ralendermann, der 
Herausgeber des Rheinischen Hausfreundes, Johann Peter Hebel. 
Ein zwei Dutzend feiner besten Geschichten, »Der Schneider in Pensa", 
„Ranitverstan", »Herr Charles", »Franziska", „Einer Ldelfrau 
schlaflose Nacht", „Unverhofftes wiedersehen" u. a. m., wiegen Wagen 
ladungen seichter und dekadenter Romane auf, und der Renner weiß, 
daß ihm Johann Peter Hebel nicht nur kernige Lebensweisheit und 
erfrischenden Humor, sondern auch werte der künstlerischen Gestal 
tung zu bieten hat, die, war straffe Romposition und wirkungsvoll 
kräftige, amnuttg leichte Sprache betrifft, nach dem Urtelle eines so 
hervorragenden Meisters der deutschen Sprache und Lrzählungskunst 
huch, Jeremta» Gotthelf» Weltanschauung. Bern, A. Franke.
	        
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