330
den richtigen Vogel heraus zu finden und legte den Tönen einen
menschlichen Text unter, „hurt ji woll, Jungs," sagte er, wenn
er uns auf den Schnepfenzug mitnahm, und der Krammetsvogel
bei'm Sonnenuntergang lustig in den Asten der Bäume umhersprang
und sein abgebrochenes Liedlein in den dunstigen herbstabend hernieder
sang, „sei raupen mi ordentlich. - hürt ji woll: Ratsherr Hers'
— Kumm hir her! — Kumm hir her! — Scheit mi dod! — Ik
bün hir — wo 's Grischow? — Vo 's Grischow? Scheit mi dod!"
— Aber er tat es nicht, mein guter Gnkel herse; alles Blut, was
er vergossen hat, mit Ausnahme von Sperlingsblut, wenn diese
zudringlichen Gäste ihm die Kirschbäume verheerten, will ich zur
Sühne dafür auf meine Seele nehmen, daß ich in den Schilderungen
von ihm seine Komische Seite herausgekehrt habe.
Aber Gnkel Hers' fand nicht überall die gebührende Anerkennung,
wie der alte Friedrich, der Kutscher und Knecht, sich bei Reuters
Vater beschwerte: „Un nemen 5' nich aewel, Herr Burmeister, de
Herr Ratsherr Hers' set't de Gören blot Rupen^ in den Kopp. —
August hett sik gistern de nigen Büxen mit viktriolöl insmert, wil
dat de Herr Ratsherr em dat Stock-Beizen dormit lihrt hett, Ernsten
hett hei dat Klammer-Sniden^ bibröcht, un de sitt nu den ganzen
Dag in't hauschuer un snitt Klammern un hett mi Minen Fritt-
bohrer wegkröcht, un des' lett mi hir smarten vag' ^ roken. Ricks
as Schelmenstücken Uhren s' bi den Herrn Ratsherrn!"
Schulen gab es zu Reuters Zeit hauptsächlich zweierlei Art,
de Kösterschaul, de Rektorschaul, daneben aber noch manche Abart,
wie z. B. in Stavenhagen auch „de Becker-Schaul" bestand, genannt
nach der alleinigen „Direktrice und Lehrerin", der Mutter Beckersch.
in der „die Anfangsgründe aller Wissenschaft, ausdauerndes Litzen
und verständiges Maulhalten" geübt wurde. Ihre Btrkenrute band
sie an ein Stück Bohnenstange, damit sie beim Strafen es bequemer
hatte, denn so konnte sie von ihrem Platze jeden einzelnen als
rächende Nemesis erreichen. Offenbare Böjewichter aber mußten
mit einem gemalten Esel um den hals vor der Tür stehen. Und
der Erfolg dieser Erziehung zum Ehrgefühl? Venn ein solcher
Eselträger öffentlich ausgestellt war, versammelte sich die übrige
Jugend aus der Straße um ihn und baten ihn: „Korl, ik gew di
ok en Stück von minen Appel, lat mi ok mal eins den Esel üm-
hängen." — „„Krischaening, nu mi mol! — Deihst 't nich? —
Ra täuw, ik nem di ok nich wedder mit nah min Großmudding
ehren Goren."" - Ja, mein bester Freund, Karl Nahmacher, kam
schon nach der zweiten Stunde, in der er sich hartnäckig gegen die
Sitzverordnungen gesträubt hatte, jubelnd nach Hause zurück: „Mud
ding, ik heww den Esel üm hatt! vadding, ik heww mit den
Esel up de Strat stahn!"
Der Stock ist das Hauptkennzeichen des „Kösters", von dem
in Stavenhagen erzählt Reuter „er prügelte" die Schüler in die
Fibel hinein und hinaus und dann wieder in Lutheri Katechismus
hinein, worin sie dann zeitlebens Jecken blieben", und es ist nicht
nur Scherz, wenn er in der „Reis' nach Konstantinopel" von dem
Küster erzählt, daß er nur Sonntags Zeit habe, denn „Varkeldags
mot hei de Kinner slagen". Der unwissende, aber auf sein wissen
dennoch sehr stolze und sich sehr „gebildet" ausdrückende „Köster"
ist oft die Zielscheibe des Spottes bei Reuter, z. B. in der „Reis'
nah Belligen" und vor allem Herr Nemlich in „De Reis' nach
Konstantinopel". Herr Nemlich hat nämlich zwei Bücher über die
Balkanhalbinsel „studiert" und wird als Führer und Erklärer von
der Familie Groterjahn auf eine Reise nach Konstantinopel mit
genommen, und wie ihr Schiff an Menthone vorbeifährt, kommt
die Rede auch auf andere Schulmeister: „Sagen Sie mich mal, frug
der Prinzipal, was ist das mit diesem Ding da?" — Herr Nemlich
säd: „Menthone, eine kleine, unbedeutende Festung, die kein Vaffer
hat, berühmt als Geburtsstadt des Pythagoras." — ,,„py . . .?
Py . . .? wie heißt der Kerl? und was war's mit diesem Kerl?""
— Und als er etwas von Pythagoras hörte, dann konnte der
Herr Groterjahn nicht an sich halten: „Na hören Sie, es ist doch
markwürdig, sehr markwürdig, daß die Schulmeister in alter Zeit
justement solche Grappen^ gehabt haben als unsere auch. . . Vas
machen die verfluchten Kerls so'n Rittergutsbesitzer für Arger! -
1 Raupen, 2 Klammerschneiden.
8 Bilsenkraut (nach der Erzählung Vnkel herses sollte man dadurch
unsichtbar werden).
4 Schrullen.
Sic wollen sogar klüger sein als ihr Herr." Es gibt Leute, die
behaupten, daß weder diese Art von Schulmeistern noch die gleiche
Art der Gutsbesitzer ausgestorben wären bis auf den heutigen Tag.
Aber de Rekter-Schaul. „Ich wollte, ich könnte das stolze, be
friedigte Gesicht meines Freundes, Karl Nahmacher, hier hinzeichnen,
als er, fibelreif aus der „Becker-Schaul" entlassen, mir die Anzeige
machte: „Fritz, ik kam nu in de .Rekter-Schaul'." - „„G, woll man
bi de Fru Rektern?"" — „Frau Rektorin war eigentlich nur eine
bloße Rivalin von Mutter Beckersch, nur daß sie vom Publikum
mehr als im Staatsdienste angestellt angesehen wurde. Die von ihr
eingeführte Geistesgymnastik begann ebenfalls mit den unvermeid
lichen Übungen des Slillsitzens und Maulhaltens, und der darauf
folgende Bildungsgang des a —b, ab, b —a, ba würde denselben
verlauf gehabt haben, hätte der Beckersche tenor 1 nicht gefehlt.
Mutter Beckersch gab sich ihrem Berufe ganz hin, Frau Rektorin
konnte das nichts sie war Mutter verschiedener unerzogener Kinder
und Hausfrau, und der Herr Rektor war - nun, wir wollen uns
milde ausdrücken - sehr bedenklich im Punkte des Mittagessens.
So mußte denn also die Frau Rektorin ab und an nach der Suppe
und dem Braten sehn, und es traten dann kleine Ferien ein, in
denen vollständiger Comment suspendu herrschte. Allzu lebhaft
durfte dieser freilich nicht ausgenutzt werden, denn plötzlich sprang
zuweilen die Tür zur Küche auf, und die Frau Rektorin, rot von
Feuer und Arger, erschien auf der Schwelle und ließ den Kochlöffel
brühwarm auf die Häupter ihrer kleinen Rebellen fallen.' Bisweilen
wurde auch der Schullisch zum gewöhnlichen Anrichtetisch erniedrigt,
es wurden darauf Pfannkuchen angerührt, Fische zurechtgemacht
und Gemüse geputzt; oder aber es wurden auch aus des Herrn
Rektors Klaffe einige der größeren Mädchen zum Kartoffelschälen
in die Küche kommandiert und die größeren Jungen um Pfeffer
und Salz zum Kaufmann und um Petersilie in den Garten geschickt.
Man mag diese nützliche Verwendung der lernenden Schulkräfte
für leve ac non satis digmim 1 2 erklären; ich kann mich diesem
Urteile jedoch nicht unbedingt anschließen. Für die Jungen, die
unter dem Vorwände, Petersilie zu holen, Apfel mauseten und sich
den Magen mit unreifen Stachelbeeren verdarben, mag das gelten;
auf die Mädchen paßt es nicht, denn mehrere meiner Freundinnen
aus jener Zeit, die jetzt brave, wirtschaftstüchtige Hausfrauen sind,
haben mich ernstlich versichert, sie hätten mehr in der Frau Rektorin
Küche, als in des Herrn Rektors Schulstube gelernt."
Der „Rekter" ist immer ein gelehrter Mann, dem sein Vissen
zum Leben wird, was aber nicht immer die gewünschte Vürdigung
bei anderen findet. Auch der „Rekter Baldrian" in der „Strom»
tid" ist ein solcher. Mit seinem Schwager, dem Kaufmann Kurz,
wanderte er, der langbeinige, über Land wie ein Daktylus, nämlich
lang, kurz. Kurz; lang, kurz, kurz. Und wie Kurz so lange Schritte
als möglich machte, kommen sie im Spondäus an, empfangen mit
dem heimlichen Seufzer: „Leiwer Gott, nu bringt Kurz den Rekter
ok noch mit." Aber der Herr in allen Situationen, Gnkel Bräsig,
tröstet: „Der soll uns heut nich viel inkommandieren, ich werd ihn
ümmer das Wort absneiden." Aber auch er fängt an zu bangen:
„Nu sehn Sie den Gllen mal an — Gott behüt uns in Gnaden!
— er preponiert sich jetzt ne Red auswendig, un lang wird sie,
denn alles is bei ihm lang, aber am längsten sünd seine Seremonien."
Ja, „so 'ne olle Schaulmeisters, wenn sei mit nicks wider 3 tau
dauhn hewwen, as mit ehre Schauljungs, dann wennen^ sei sich
nicks as Undäg an und glöwen tauletzt, dat anner Lüd ebenso för
ehr parat sin möten, as ehr Schaulkinner".
Dir liebenswürdigste Schulmeistergestalt bei Reuter ist Apinus in
„Dörchläuchting", „en Mann in Ihren un würden, Konrekter un
Kanter tau glike Tid". „hei was en gauden Mann un hadd ok
sin Ding düchtig liehrt, 5 denn hei was so tämlich^ de irste Schaul»
Meister an de hoge' Schaul tau Nigen-Bramborg, 8 de mit de ollen
Griechen un Römer gaud Bescheid wüßte, un darüm Hillen 9 ock
sin Schäulers wat von em." Er war kein solcher, der „in seinen
Prezepterstolz noch ümmer Schaulhus un Tuchthus 10 un Schaul»
tucht und Tuchtstraf verwesselte", und so hält er denn auch kein
großes Strafgericht, wie er seine Klaffe bei einer allgemeinen prü»
gelei trifft, obgleich er „hellschen falfd)" 11 ist. Aber er fährt sie
1 Art und weise. 2 Kleinlich und nicht würdig genug.
8 weiter 4 gewöhnen 8 gelernt 6 ziemlich 7 _ hohe^
8 Neu-Brandenburg 9 hielten 10 Zuchthaus 11 höllisch ärgerlich