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jugendlichen Lebensstiles, verlangt sie entschieden: Menschenrecht,
Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit. Die Jugend, sie
möchte sturmen und drängen, voraussetzungslos aufbauen, schaffen
mit frischer Kraft. Doch wie lange dauert es, bis diese in neuen
Formen sich auswirkt, bis sie ihre kühnen Pläne herausgemeißelt
hat in heftiger Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die sich als
feste Kulturform hemmend - daneben auch bildend und fordernd -
entgegenstellt.
wird einerseits das historisch Gewordene als Last empfunden, so
ergeben sich anderseits neue Schwierigkeiten daraus, daß die Gesell
schaft unorganisch ist, daß sie der Jugend zu sehr als Zweckverband
und damit seelenlos, zerriffen erscheint. Die Jugend, im dunklen
Sehnen, strebt nach persönlicher Fühlungnahme, nach innerer Bindung,
die sie zu finden glaubt in Gemeinschaften, in denen jede Indioidua-
lität als solche zählt und empfunden wird.
Ganz anders hatte Jugendphantasie Welt und Menschen erträumt,
erträumt ohne klare Kenntnis der Dinge, wie sie sind, ohne sicheres
Urteil über die Folgen der Handlungen, ohne ein Ahnen von der
Beschränktheit der Eigenkraft. Die sehnsüchtig sich einfühlende Phan
tasie drängte nach Seelenerweiterung, Seelenformung, die sie in der
Gemeinschaft der Erwachsenen zu finden hoffte.
Realistisch ablehnend, phantasielos, poesielos begegnet diese dem
jungen Drängen. Lin buntes Spiel sozialer Beziehungen und Kämpfe
entwickelt sich, es ist vor allem das „Geltenwollen", der Kampf um
das „Sicheingliedern." Da beides schwer gelang, schloffen Jugend
gruppen sich zusammen zur geistigen Revolution, zur Vorbereitung
einer neuen Kulturepoche mit neuen geistigen Fundamenten. Die
Möglichkeit des Zusammenschlußes ist dank der ähnlichen Seelen-
struktur geboten; die Jugendbewegung schuf Ligenkultur, lebte
in der Ligenwelt, ohne von vornherein sich klar zu werden, daß
der Übergang in die reife Kultur einmal erfolgen muß. Die seelische
Struktur der Entwicklung tönt weiter nach. Auf ihrem „Ligenweg"
trifft die Jugendbewegung Spuren aus dem Romadentum, aus der
Helden- und Ritterzeit. All diese alt-neuen Momente werden der
modernen Welt eingegliedert. Lin ästhetisch.phantastischer Lebensstil
formte sich, romantische Wanderlust. Naturgenuß, Volkstümlichkeit
in aller Primitivität. Alles Unpersönliche, bloß Intellektuelle, Ratio
nalisierte wird abgelehnt; Organisationen und Satzungen müßen
fallen; aus freiem Zusammenleben erwachsen die Führernaturen,
deren Amt sich nur auf persönliche Eigenschaften stützt. Das ist im
Wandervogel zur Form gewordene Sehnsucht.
Mehr, als wir ahnen und wißen, hat uns der Zeitgeist, der
Geist des Materialismus in seinen Bann geschlagen. Rießbare, zähl
bare Dinge sind uns Maßstab der menschlichen Wohlfahrt, der Volks
wohlfahrt geworden. Seelenlos wurde die Gesellschaft, der Mensch
zum freudlosen Geil einer großen Maschine. Mit Mitleid und Spott
wendet sich die Jugend ab vom modernen, überfeinerten Menschen,
eröffnet sie einen grimmen Kampf gegen Materialismus und Kapita
lismus, ohne allerdings zu bedenken, wie viele aus den eigenen
Reihen in den Scheunen und Gbstkammern der weiten Gutshöfe
Nachtquartiere finden, wie mancher sich an Früchten und Broten
der freigebigen Kapitalisten labt; ohne vor allem die Pflicht zu
erkennen, ernsthaft einzudringen in die Fragen der Wirtschaft und
Sozialpolitik. Viel Echtes und wahres l-egr im Kampf gegen den
Zeitgeist. Aus der Kritik an einer verkehrten Wirtschaft, aus der
Sehnsucht nach einer Zeit wirtschaftlicher, leiblicher und geistiger
Gesundung, entstand das persönliche Bekenntnis zur einfachen
Lebensführung, die den verzicht liebt, um die Seele gesund, den
Körper frisch zu erhalten, die Alkohol und Nikotin ablehnt, auf
Wanderungen äußerst anspruchslos lebt, um dem neuen Lebensstil
symbolischen Ausdruck zu geben. „Das seelische Zentrum aller welt
arbeit wiederzufinden, es im einzelnen Menschen und im gesellschaft
lichen Leben mit neuer Klarheit und Festigkeit zu begründen, das
ist ,ein' Ziel der Jugendbewegung." (Förster: Jugendseele S. 16.)
Tiefer als der Kampf gegen den Materialismus wurzelt der
gegen den Intellektualismus, tiefer, da der Intellektualismus
fester verknüpft ist mit dem Geist des 19. Jahrhunderts. Frei will
die neue Jugend werden von der Ausbildung rein rationaler Fähig
keiten, von der Überschätzung des rein verstandesmäßigen Denkens,
wodurch die natürliche Einheit im Menschen gestört, die tiefen
schöpferischen Kräfte verkümmert werden. Zurück zum natürlichen
Zusammenhang alles Lebendigen, zur Klarheit; ein neuer Sinn der
Welt und des Lebens erwacht, gotischer Geist wird ausgegraben,
Bücher über den gotischen Menschen werden gelesen, weil die gotische
Epoche eine Geschlossenheit der wiffenschaftlichen, künstlerischen und
religiösen Kultur gezeigt hat, was der eigenen Zeit fehlt. - Der
Kampf gegen den Intellektualismus ist vielfach nur ein Ringen um
Worte, ein Streit um Theorien, eine Auseinandersetzung der Jugend
um Dinge, die sie noch nicht erfaßt hat. Als Reaktionserscheinung
erfolgt oft eine Flucht in die mittelalterliche Mystik, eine
weiche Schwärmerei, ein Berauschen an Gefühlen, weil der Wille zur
scharfen Gedankenarbeit fehlt. Die Schärfe der Kritik, ein stummes
Ressentiment, ändert nicht die Not der Zeit. Die Ehrlichmeinenden
innerhalb der Jugendbewegung haben längst diese Einsicht gewonnen,
haben sich frei gemacht von der weltschmerzlichen Stimmung, und in
geregelter Tätigkeit und treuester Erfüllung übernommener pflichten
unter verzicht auf eigene wünsche und Lebensansprüche ihre selbst,
gewählten Ideale zu verwirklichen versucht.
Verhältnis der Jugend zur Autorität.
Beobachteten wir bislang die Jugendbewegung in ihrem neu»
erwachten Lebensgefühl, in ihrem Kampf gegen die geprägten Formen,
so sehen wir nun die Jugend in ihrer Eigenständigkeit gegen,
über der Autorität. Spannung zwischen den Generationen ist
psychologisch durchaus erklärlich. Während das Kind in der Familie
die soziale Gemeinschaft erblickt, in der es Schutz findet, in der es
aufgeht, zeigt sich beim heranwachsenden eine antisoziale Einstellung,
der traute Umgang im kleinen Kreis fällt lästig, man will die Indi
vidualität abgehoben wissen, eigene Überzeugungen vertreten und
pflegen, das Innenleben fteilaffen. Stärker kristallisiert sich das
„Ich" heraus, bewußt oder unbewußt vollzieht sich eine Abschnürung
und Isolierung, bis das Ich sich eines Tages als einsames Wesen
in der Familie sieht, einsam auch in der Maffe und hinausstrebt zu
einem „Du". Die antisoziale Welle legt sich, neues Interesse an
Menschlichkeitsproblemen erwächst, die Jugend sucht weggenoffen und
findet sie unter ihresgleichen. Vas Gefühl bemächtigt sich, als ob
die ältere Generation sie nicht versiehe, ihre Freiheit einenge, kurz,
lebensfclndlich fei. Diese Gesinnung verdichtet sich häufig zur ab so»
luten Betonung der Eigenständigkeit, zu der Überzeugung, Allein»
irägerin eines befferen Menschentums zu sein, zur Ablehnung jeder
Autorität.
Der Gegensatz der Generationen ist einerseits begründet im
Lebensalter und Lebensrhythmus, anderseits in der neuen
Geistigkeit. Das dem „Ich" adäquate „Traditionelle" wird gedanken
los als Mitgift genommen. Stürmisch wendet sich alles Interesse
auf die leer gebliebenen Stellen im Innern, voll Sehnsucht drängen die
Kräfte nach wirken, nach Genießen. Erft im reifen Leben folgt
die Synthese der wertrichtungen. Zu wenig beachten die Alteren das
Ehrgefühl, dos nicht nur Empfindlichkeit bedeutet, sondern auch
den feinsten sittlichen Maßstab bietet, Boden für gesunden Ehrgeiz.
Mit dem Wunsch zu gelten und dem Ehrgefühl ist meistens der
Kampftrieb verbunden, der sich in zahlreichen Formen, u. o. in
Widerspruchsgeist und offenem widerstand bekundet, wer die Jugend
versteht, weiß, daß schwere Konflikte unvermeidlich sind, Konflikte,
die die Loslösung von den Autoritäten stark fördern. — Der Krisis
der Loslösung entspricht die des Losgelöstseins. Noch ist der
junge Mensch nicht fähig, allein sich durchzusetzen. Vas unruhige
Treiben und Drängen, die Einsamkeit, das Suchen lösen Sehnsucht
aus, Sehnsucht, aus der Gegenwart herauszukommen, Sehnsucht nach
verstandenwerden und Mitgehen. Da findet er halt in der Jugend»
bewegung.
Der Mensch trägt innere, zur Auswirkung drängende wefensnot»
Wendigkeiten in sich, hat Recht zu eigenem Urteil und Schluß. Jahre
vergehen, bis die Erkenntnis reift, daß im Lebensganzen nicht nur
Gleiches neben Gleichem stehen kann, daß eine Rangordnung bestehen
muß, die Über- und Unterordnung verlangt. Die unbeschränkte Ligen»
ständigkeit muß einer gesunden Erkenntnis weichen, jener Einsicht
daß Unterordnung, Anerkennung der Autorität micht zeitweiliges
oder dauerndes Stärkersein bedeutet, nein — daß vielmehr hier sitt»
liche Kräfte zugrunde liegen, die Unterordnung unter die Urheber
des Seins verlangen. Die katholische Jugendbewegung kann die
Meißnersätze, die Autoritätsfrage betreffend, nicht anerkennen, kann
nicht nach Kant das Sittengesetz loslösen von persönlichen Trägern
und zum Eigeng^etz der Ich machen. Die Persönlichkeit steht