Full text: Wochenschrift für katholische Lehrerinnen - 37.1924 (37)

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jugendlichen Lebensstiles, verlangt sie entschieden: Menschenrecht, 
Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit. Die Jugend, sie 
möchte sturmen und drängen, voraussetzungslos aufbauen, schaffen 
mit frischer Kraft. Doch wie lange dauert es, bis diese in neuen 
Formen sich auswirkt, bis sie ihre kühnen Pläne herausgemeißelt 
hat in heftiger Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die sich als 
feste Kulturform hemmend - daneben auch bildend und fordernd - 
entgegenstellt. 
wird einerseits das historisch Gewordene als Last empfunden, so 
ergeben sich anderseits neue Schwierigkeiten daraus, daß die Gesell 
schaft unorganisch ist, daß sie der Jugend zu sehr als Zweckverband 
und damit seelenlos, zerriffen erscheint. Die Jugend, im dunklen 
Sehnen, strebt nach persönlicher Fühlungnahme, nach innerer Bindung, 
die sie zu finden glaubt in Gemeinschaften, in denen jede Indioidua- 
lität als solche zählt und empfunden wird. 
Ganz anders hatte Jugendphantasie Welt und Menschen erträumt, 
erträumt ohne klare Kenntnis der Dinge, wie sie sind, ohne sicheres 
Urteil über die Folgen der Handlungen, ohne ein Ahnen von der 
Beschränktheit der Eigenkraft. Die sehnsüchtig sich einfühlende Phan 
tasie drängte nach Seelenerweiterung, Seelenformung, die sie in der 
Gemeinschaft der Erwachsenen zu finden hoffte. 
Realistisch ablehnend, phantasielos, poesielos begegnet diese dem 
jungen Drängen. Lin buntes Spiel sozialer Beziehungen und Kämpfe 
entwickelt sich, es ist vor allem das „Geltenwollen", der Kampf um 
das „Sicheingliedern." Da beides schwer gelang, schloffen Jugend 
gruppen sich zusammen zur geistigen Revolution, zur Vorbereitung 
einer neuen Kulturepoche mit neuen geistigen Fundamenten. Die 
Möglichkeit des Zusammenschlußes ist dank der ähnlichen Seelen- 
struktur geboten; die Jugendbewegung schuf Ligenkultur, lebte 
in der Ligenwelt, ohne von vornherein sich klar zu werden, daß 
der Übergang in die reife Kultur einmal erfolgen muß. Die seelische 
Struktur der Entwicklung tönt weiter nach. Auf ihrem „Ligenweg" 
trifft die Jugendbewegung Spuren aus dem Romadentum, aus der 
Helden- und Ritterzeit. All diese alt-neuen Momente werden der 
modernen Welt eingegliedert. Lin ästhetisch.phantastischer Lebensstil 
formte sich, romantische Wanderlust. Naturgenuß, Volkstümlichkeit 
in aller Primitivität. Alles Unpersönliche, bloß Intellektuelle, Ratio 
nalisierte wird abgelehnt; Organisationen und Satzungen müßen 
fallen; aus freiem Zusammenleben erwachsen die Führernaturen, 
deren Amt sich nur auf persönliche Eigenschaften stützt. Das ist im 
Wandervogel zur Form gewordene Sehnsucht. 
Mehr, als wir ahnen und wißen, hat uns der Zeitgeist, der 
Geist des Materialismus in seinen Bann geschlagen. Rießbare, zähl 
bare Dinge sind uns Maßstab der menschlichen Wohlfahrt, der Volks 
wohlfahrt geworden. Seelenlos wurde die Gesellschaft, der Mensch 
zum freudlosen Geil einer großen Maschine. Mit Mitleid und Spott 
wendet sich die Jugend ab vom modernen, überfeinerten Menschen, 
eröffnet sie einen grimmen Kampf gegen Materialismus und Kapita 
lismus, ohne allerdings zu bedenken, wie viele aus den eigenen 
Reihen in den Scheunen und Gbstkammern der weiten Gutshöfe 
Nachtquartiere finden, wie mancher sich an Früchten und Broten 
der freigebigen Kapitalisten labt; ohne vor allem die Pflicht zu 
erkennen, ernsthaft einzudringen in die Fragen der Wirtschaft und 
Sozialpolitik. Viel Echtes und wahres l-egr im Kampf gegen den 
Zeitgeist. Aus der Kritik an einer verkehrten Wirtschaft, aus der 
Sehnsucht nach einer Zeit wirtschaftlicher, leiblicher und geistiger 
Gesundung, entstand das persönliche Bekenntnis zur einfachen 
Lebensführung, die den verzicht liebt, um die Seele gesund, den 
Körper frisch zu erhalten, die Alkohol und Nikotin ablehnt, auf 
Wanderungen äußerst anspruchslos lebt, um dem neuen Lebensstil 
symbolischen Ausdruck zu geben. „Das seelische Zentrum aller welt 
arbeit wiederzufinden, es im einzelnen Menschen und im gesellschaft 
lichen Leben mit neuer Klarheit und Festigkeit zu begründen, das 
ist ,ein' Ziel der Jugendbewegung." (Förster: Jugendseele S. 16.) 
Tiefer als der Kampf gegen den Materialismus wurzelt der 
gegen den Intellektualismus, tiefer, da der Intellektualismus 
fester verknüpft ist mit dem Geist des 19. Jahrhunderts. Frei will 
die neue Jugend werden von der Ausbildung rein rationaler Fähig 
keiten, von der Überschätzung des rein verstandesmäßigen Denkens, 
wodurch die natürliche Einheit im Menschen gestört, die tiefen 
schöpferischen Kräfte verkümmert werden. Zurück zum natürlichen 
Zusammenhang alles Lebendigen, zur Klarheit; ein neuer Sinn der 
Welt und des Lebens erwacht, gotischer Geist wird ausgegraben, 
Bücher über den gotischen Menschen werden gelesen, weil die gotische 
Epoche eine Geschlossenheit der wiffenschaftlichen, künstlerischen und 
religiösen Kultur gezeigt hat, was der eigenen Zeit fehlt. - Der 
Kampf gegen den Intellektualismus ist vielfach nur ein Ringen um 
Worte, ein Streit um Theorien, eine Auseinandersetzung der Jugend 
um Dinge, die sie noch nicht erfaßt hat. Als Reaktionserscheinung 
erfolgt oft eine Flucht in die mittelalterliche Mystik, eine 
weiche Schwärmerei, ein Berauschen an Gefühlen, weil der Wille zur 
scharfen Gedankenarbeit fehlt. Die Schärfe der Kritik, ein stummes 
Ressentiment, ändert nicht die Not der Zeit. Die Ehrlichmeinenden 
innerhalb der Jugendbewegung haben längst diese Einsicht gewonnen, 
haben sich frei gemacht von der weltschmerzlichen Stimmung, und in 
geregelter Tätigkeit und treuester Erfüllung übernommener pflichten 
unter verzicht auf eigene wünsche und Lebensansprüche ihre selbst, 
gewählten Ideale zu verwirklichen versucht. 
Verhältnis der Jugend zur Autorität. 
Beobachteten wir bislang die Jugendbewegung in ihrem neu» 
erwachten Lebensgefühl, in ihrem Kampf gegen die geprägten Formen, 
so sehen wir nun die Jugend in ihrer Eigenständigkeit gegen, 
über der Autorität. Spannung zwischen den Generationen ist 
psychologisch durchaus erklärlich. Während das Kind in der Familie 
die soziale Gemeinschaft erblickt, in der es Schutz findet, in der es 
aufgeht, zeigt sich beim heranwachsenden eine antisoziale Einstellung, 
der traute Umgang im kleinen Kreis fällt lästig, man will die Indi 
vidualität abgehoben wissen, eigene Überzeugungen vertreten und 
pflegen, das Innenleben fteilaffen. Stärker kristallisiert sich das 
„Ich" heraus, bewußt oder unbewußt vollzieht sich eine Abschnürung 
und Isolierung, bis das Ich sich eines Tages als einsames Wesen 
in der Familie sieht, einsam auch in der Maffe und hinausstrebt zu 
einem „Du". Die antisoziale Welle legt sich, neues Interesse an 
Menschlichkeitsproblemen erwächst, die Jugend sucht weggenoffen und 
findet sie unter ihresgleichen. Vas Gefühl bemächtigt sich, als ob 
die ältere Generation sie nicht versiehe, ihre Freiheit einenge, kurz, 
lebensfclndlich fei. Diese Gesinnung verdichtet sich häufig zur ab so» 
luten Betonung der Eigenständigkeit, zu der Überzeugung, Allein» 
irägerin eines befferen Menschentums zu sein, zur Ablehnung jeder 
Autorität. 
Der Gegensatz der Generationen ist einerseits begründet im 
Lebensalter und Lebensrhythmus, anderseits in der neuen 
Geistigkeit. Das dem „Ich" adäquate „Traditionelle" wird gedanken 
los als Mitgift genommen. Stürmisch wendet sich alles Interesse 
auf die leer gebliebenen Stellen im Innern, voll Sehnsucht drängen die 
Kräfte nach wirken, nach Genießen. Erft im reifen Leben folgt 
die Synthese der wertrichtungen. Zu wenig beachten die Alteren das 
Ehrgefühl, dos nicht nur Empfindlichkeit bedeutet, sondern auch 
den feinsten sittlichen Maßstab bietet, Boden für gesunden Ehrgeiz. 
Mit dem Wunsch zu gelten und dem Ehrgefühl ist meistens der 
Kampftrieb verbunden, der sich in zahlreichen Formen, u. o. in 
Widerspruchsgeist und offenem widerstand bekundet, wer die Jugend 
versteht, weiß, daß schwere Konflikte unvermeidlich sind, Konflikte, 
die die Loslösung von den Autoritäten stark fördern. — Der Krisis 
der Loslösung entspricht die des Losgelöstseins. Noch ist der 
junge Mensch nicht fähig, allein sich durchzusetzen. Vas unruhige 
Treiben und Drängen, die Einsamkeit, das Suchen lösen Sehnsucht 
aus, Sehnsucht, aus der Gegenwart herauszukommen, Sehnsucht nach 
verstandenwerden und Mitgehen. Da findet er halt in der Jugend» 
bewegung. 
Der Mensch trägt innere, zur Auswirkung drängende wefensnot» 
Wendigkeiten in sich, hat Recht zu eigenem Urteil und Schluß. Jahre 
vergehen, bis die Erkenntnis reift, daß im Lebensganzen nicht nur 
Gleiches neben Gleichem stehen kann, daß eine Rangordnung bestehen 
muß, die Über- und Unterordnung verlangt. Die unbeschränkte Ligen» 
ständigkeit muß einer gesunden Erkenntnis weichen, jener Einsicht 
daß Unterordnung, Anerkennung der Autorität micht zeitweiliges 
oder dauerndes Stärkersein bedeutet, nein — daß vielmehr hier sitt» 
liche Kräfte zugrunde liegen, die Unterordnung unter die Urheber 
des Seins verlangen. Die katholische Jugendbewegung kann die 
Meißnersätze, die Autoritätsfrage betreffend, nicht anerkennen, kann 
nicht nach Kant das Sittengesetz loslösen von persönlichen Trägern 
und zum Eigeng^etz der Ich machen. Die Persönlichkeit steht
	        
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