Full text: Wochenschrift für katholische Lehrerinnen - 37.1924 (37)

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drei kleinen Rindern zusammen) mehr und mehr zurückbleibt. Noch | Anforderungen, die das Rind während seiner entwicklungsfähigsten 
einem Worte der Mutter ist es ihm fast unmöglich, einmal eme 
ordentliche häusliche Arbeit anzufertigen. Mit steigender. Sorge 
mußte ich bei steigendem Sommer die wachsende Stumpsheit und 
Teilnahmlosigkeit in fast allen Unterrichtsstunden feststellen, als 
plötzlich ein Umschwung eintrat - durch ein paar Rinderreime, die 
ich im Anschlüsse an die Lektüre von Storms „Vötjer Basch" gab, 
und durch ein Windrädchen, das als praktische Übung zu Kreis 
ausschnitt und Rreisring zur häuslichen Anfertigung empfohlen 
wurde, von der Freude des kleinen Neffen an Reimen und Spiel 
zeug konnie sie am folgenden Tage nicht genug erzählen, und an 
dieser Freude ist sie dann auch wieder lebendiger geworden. - 
haben wir so dazu geholfen, die heimschaffenden Rräfte in unseren 
Mädchen zu wecken, indem wir die seelischen Beziehungen zu seinen 
Angehörigen vertiefen, dürfen wir ihm auch helfen, sein räumliches 
heim umzugestalten. Daß dazu aUerfeinster Takt gehört, ist selbst- 
verständlich. Wir können nur im Ganzen des Unterrichtes und der 
-Erziehung versuchen, auch in dieser Hinsicht Einfluß auf das Mädchen 
zu gewinnen, wenn es aber gelernt hat, daß nur das Einfache 
und Echte und Zweckmäßige schön sein kann, wird es vielleicht später 
bei Gestaltung seiner eigenen Häuslichkeit die Anwendung finden 
und machen, ohne daß cs ihm jetzt zunächst möglich ist, im heim 
seiner Eltern etwas zu ändern, wie'soll man es anstellen, große 
Mädchen zu Höflichkeit, zur Rultur der Umgangsformen und der 
Eßfitten zu erziehen, ohne nicht gleichzeitig Rritik an seinem Eltern- 
bause zu üben, seinen eigenen Blick für die Rulturlosigkeit seiner 
Häuslichkeit zu schärfen? Noch einen Gedanken kann ich nicht 
unausgesprochen lassen, wenn ich von der heimschaffenden Rraft der 
Frau rede und von der Weckung dieser Rräfte im Heranwachsenden 
Mädchen. Im eigentlichen, tiefsten und wohltuendsten Sinne besitzt 
nur jene Frau diese Rraft, die „in sich beruhigt ist", wie es jene 
Frauen einer vergangenen Rulturepoche gewesen sind, deren Briese 
und Tagebücher wir heute mit einer gewiffen stillen Wehmut lesen, 
nicht ohne so etwas wie einen leisen, feinen hauch ihrer heimkrast 
zu verspüren, wenn dieser Ruhe „heiliges, unerschöpftss Gut" 
allerdings zur Weckung dieser wertvollsten Frauenkraft im Mädchen 
erforderlich ist, dann mag es uns in der Industrie, in der Großstadt, 
rm besetzten Gebiete so scheinen, als sei all unser Tun vergeblich. 
Zu der haft, dem Lärm und den nicht endenwollenden Sensationen 
der Straße, zu der Zerrissenheit der Häuslichkeit durch wirtschaftliche 
Not und Vergnügungssucht kommt für unsere Rinder noch die 
Heimatlosigkeit der Schule, heute können wir das Schulgebäude 
noch benutzen, morgen ziehen wir in ein anderes dn; heute ist der 
Stundenplan fertig, morgen muß er vollständig umgestoßen werden, 
heute prägen sich die Rinder die Schul- oder Rirchenordnung ein, 
morgen gilt etwas anderes, wir führen sie ins Luftbad, in die 
Schwimmhalle, auf den Sportplatz, in die Turnhalle, in die Roch. 
Küche, in das Schulkino, in ein anderes Rino,^ wenn dort gerade 
ein geschichtlich oder naturgeschichtlich intereffanter Film gespielt wird, 
ermuntern sie zum Besuche von Theatervorstellungen, die zu irgend 
einem wohltätigen Zwecke veranstaltet worden sind und alles dies 
mitunter innerhalb einer Schulwcchs, um uns dann darüber zu 
wundern, daß die Rinder unruhig sind, keine Ronzentrationsfähigkeit 
mehr besitzen, und daß wir selbst bei einem höchstaufwande von 
Nervenkraft sehr wenig erreichen. „In sich beruhigt" - wer 
das einmal wieder sein könnte! Gerade unsere großen Mädchen 
bedürften so sehr einer ungestörten Stetigkeit für ihr äußeres und 
inneres wachsen und werden, wie sollen sie in den Gefahren des 
Lebenskampfes mit so aufgeriebenen Nerven sich rein erhalten und 
jene Selbstbewahrung üben, aus denen sie in ihrem zukünftigen 
Familienberufe in der Hauptsache ihre heimschaffenden Rräfte schöpfen 
und erneuern müssen? 
Neben ihrer Familienaufgabe werden die meisten unserer Schüle 
rinnen im späteren Leben einem Erwerbsberuf nachgehen müßen; 
viele vielleicht nur für die Zeit bis zur Ehe, andere sogar in der 
Ehe, um damit das schwerste Frauenlos zu tragen: eine berufliche 
Doppelbelastung. Ist es uns wirklich möglich, während der Schul 
zeit des Rindes die erziehlichen Grundlagen für Berufsfreude, Be 
rufstreue, kurz, für all das zu geben, was man als das Berufsethos 
bezeichnet? Ist nicht das ganze Schulleben mit seinen Pflichten und 
1 Das bedeutet für meine persönlichen Schulverhültnisse jedesmal einen 
weg bis zu 20 Minuten innerhalb des Stundenplans, also Hetze ohne Ende. 
Lebensjahre als seinen „Beruf" aufsaßen soll, so ganz etwas anderes 
wie das mechanische, stark differenzierte Einerlei eines Frauen 
erwerbsberufes, der ihm einmal zugänglich fein wird? Rommt uns 
überhaupt in der Seele der Zwölf- und Dreizehnjährigen bei solchen 
Erziehungsversuchen etwas entgegen? Ganz gewiß! wir alle kennen 
aus Erfahrungen Schülerinnen, denen gewiffermaßen eine natürliche, 
so selbstverständliche pflichttreue innewohnt, daß ihnen die Arbeit 
als solche, das Vorwärtskommen ausreichende Wertmotive bietet, 
weil das in vielen Fällen zugleich auch die sachlich interessiertesten 
Rinder sind, werden sie ans ihrer Schulzeit etwas mit ins Leben 
nehmen, das sie befähigt, in einer stillen Feierabend- und Erholungs 
stunde sich eine Ausspannung, eine echte Freude selbst zu gestalten; 
diese Mädchen werden nicht notig haben, nur zu dem Lärm und 
den grellen Farben und den nervenpeitschenden Sensationen der 
Großstadtvergnügungsstätten ihre Zuflucht zu nehmen, wenn eine 
Arbeitspause für sie eingetreten ist. In solchen Rindern ein Berufs 
ethos vorzubereiten, ist nicht schwer: wir müssen ihnen eben im 
Unterrichte ihrer Fassungskraft angemsffene Inhalte geben und ihnen 
Wege erschließen für seelische werte, für die ihre Rindlichkeit noch 
nicht reif ist. haben sie dann darüber hinaus noch bei arbeits 
teiligem Lösen von Gesamtausgaben, in der Verwaltung von Schul 
ämtern durch persönliches Erleben gelernt, was Einordnen in ein 
Größeres, was Verantwortung für das Ganze, für eine Gemeinschaft 
bedeutet, dann haben wir nach besten Rräften für jene vorgearbeitet, 
die nach uns an der weiterführung und Weiterbildung dieser 
Mädchen zu arbeiten haben. Nun aber die andern, denen statt 
selbstverständlicher Pflichterfüllung eine gewisse körperliche und geistige 
Trägheit innewohnt? Reines der Motive (oder Druckmittel?), die 
auf den höheren Schulen zu Gebote stehen, kann in diesen Fällen 
angewendet werden: schlechte Zeugnisse und Sitzenbleiben machen nur 
geringen oder auch gar keinen Eindruck, namentlich wenn ein solches 
Rind aus einem gleichgültigen und stumpfen Eliernhause kommt, 
wenn wir also darauf verzichten, diesen Rindern mit Drohungen 
oder Strafen etwas abzuringen, was'im letzten Grunde weder für 
sie selbst noch für die Gemeinschaftsarbeit der - Rlaffe einen wert 
hat, bleibt nur der mühsame weg „jener zähen, ehrlichen Arbeit", 
von dem ich eingangs schon einmal sprach. Aus vieljähriger Volks- 
schulpraxis glaube ich nunmehr das einzige Mittel gefunden zu haben, 
den überhandnehmenden Schulverfäumniffen unserer großen Mädchen 
entgegenzuarbeiten. Es heißt, jene Rinder, in denen sich Hemmungen 
gegen ganz regelmäßige Pflichterfüllung infolge ihrer persönlichen 
Veranlagung finden, mit ganz besonderer Schärfe zu beobachten, um 
die wertmötive, die sie zur Überwindung dieser Hemmungen nötig 
haben, herauszufinden. Hilde X. ist seit fast drei Jahren meine 
Schülerin. Sie mußte in der ersten Zeit so ungefähr alle vierzehn 
Tage einmal einen Tag oder wenigstens ein paar Stunden aussetzen 
„mit Entschuldigung" — natürlich! und seitdem ringe ich mit ihr, 
ohne daß ihr das bewußt wäre, was sie am liebsten hört und 
wissen möchte, hat sie mir in der langen Zusammenarbeit natürlich 
verraten, und wenn also wieder ein Tag ausgesetzt werden mußte, 
richtete ich es in einem Fache wenigstens so ein, daß etwas ge 
lernt oder erlebt wurde, bei dem sie brennend gern dabei gewesen 
wäre. Anfangs versuchte sie, das versäumte durch interessiertes 
Fragen herauszulocken. Da ich aber grundsätzlich und konsequent 
nur für solche Rinder etwas Besonderes noch einmal durchnehme, 
die wirklich fehlen mußten, hat sie diese versuche aufgeben müßen. 
Die Unregelmäßigkeiten werden seltener und seltener. Gb sie wohl 
endgültig kapituliert hat? ich weiß es nicht, aber als sie das letztemal 
einen Tag ausgeblieben war, hörte ich sie in einer pause sagen: 
„hier kann man auch keinen einzigsten Tag fehlen, dann sitzt man 
gleich daneben." — Schwerer ist wohl die Einwirkung auf jene 
Rinder, die von den Eltern um jeder Kleinigkeit willen vom Unter 
richte ferngehalten werden, wir tragen da besonders in den Groß 
städten wohl noch lange das unselige Erbe der Rriegs- und Uach- 
kriegsjahre, in denen bei Urlaubsgenehmigungen zu Besuchs- und 
Hamsterfahrten, Ferienverlängerungen und Landaufenthalten der 
Rinder die weitestgehende Rücksicht genommen wurde, vielleicht auch 
genommen werden mußte, die heute noch von vielen trotz gänzlich 
anders gestalteter Lage als eine Selbstverständlichkell angesehen wird. 
Bei uns im besetzten Gebiete hat die RIaffenverschickung der Stadt 
kinder die natürliche Rück Entwicklung dieser Zustände noch besonders
	        
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