Full text: Wochenschrift für katholische Lehrerinnen - 37.1924 (37)

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— Präludium und Fuge von Lach. Blensdorf spielte diese Musik 
stücke, während die Schülerinnen das durch die Musik Empfundene 
durch Körperbewegungen ausdrücken sollten. Ein Lobredner dieser 
Aufführungen schrieb folgendes: „Die Musik setzte sich in Bewegung 
junger Körper um! Mehr will Blensdorf nicht; Musik soll ein 
inneres Erlebnis werden, das am Körper sichtbar wird . . . wörtlich 
bis in die Finger- und Fußspitzen, jedes Gelenk trainierend, ist die 
Musik übergeströmt!" In diesen Worten faßt jener begeisterte Lob 
redner alles zusammen, was man zu sehen bekam an fabelhafter 
Geschwindigkeit und Gelenkigkeit der Glieder, an maßlos wilden 
Sprüngen und ungestümen Körperbewegungen einzelner und ganzer 
Gruppen, an Biegsamkeit und Anpassungsfähigkeit der Körper an 
die Musik. 
Die unter der Bezeichnung „Rhythmen" zusammengefaßten Übungen 
geschahen nach einem bestimmten Takt, den eine der Spielerinnen 
auf einem Tamburin vorschlug. Die mit untergeschlagenen Beinen 
im Halbkreis sitzenden Schülerinnen schlugen mit den Händen den 
Takt nach, während eine der Schülerinnen sich erhob, um durch tolle 
Sprünge und Körperverbisgungen dem Takte einen Sinn unter 
zulegen. 
Diese „Rhythmen" und auch eine der vorgenannten Darbietungen 
wurden in enganliegenden schwarzen Badeanzügen ausgeführt. Der 
Beinling des Anzuges reichte knapp bis zur Hälfte des Oberschenkels. 
Die übrigen Vorführungen geschahen (mit einer Ausnahme) in 
farbigen Kitteln, die nicht länger waren als die Badeanzüge. 
Unter den Kitteln trugen die Darstellerinnen das Mindestmaß eines 
Beinkleides. Eine Übung erfolgte in farbigen Kitteln von anständiger 
Länge und festerem Stoff, der sich nicht wie dünnes Seidenpapier an 
den Körper anschmiegte. Diese Übung erforderte auch nicht solch 
ungestüme Bewegungen. 
Die Zuschauer - Männer, Frauen, Jünglinge, junge Mädchen 
und Kinder - nahmen alle Darbietungen mit Begeisterung auf, 
wenigstens taten sie so. Mir legte es sich schwer und schwerer auf 
die Seele, und eine bange Frage wollte nicht weichen: Ist eine solche 
musikalisch-rhythmische Schulung weiter Kreise ohne schwere Schädigung 
der Mädchenerziehung möglich? 
Daß aus dieser Schule gute dramatische Darstellerinnen für die 
Bühne und gute Balletteusen hervorgehen, ist sicher, wenn die Schule 
nur diesem Zweck dienen und eine Art Berufsschule für angehende 
Bühnenkräfte sein wollte, wäre ihr Sinn und Zweck verständlich. 
Aber wie verlautet, ist Biensdorf eigens dazu beurlaubt, seinen Ideen 
durch die Schulen Verbreitung zu verschaffen. Er soll mit dem 
Ministerium in Verbindung stehen. Der oben erwähnte Lobredner 
führt dies als einen Beweis für die Vorzüglichkeit der Blensdorfschen 
Ideen an. Biensdorf selbst hat auch in seiner Eröffnungsrede seine 
Absichten klar gesagt. 
wir Erzieherinnen stehen deshalb vor der sehr ernsten Frage: 
Ist der Mädchenerziehung mit dieser Schulung etwas gegeben, was 
uns dem Erziehungsziel näher bringt oder uns weiter davon entfernt? 
Dieser Gesichtspunkt allein ist für unsere Stellungnahme maßgebend. 
Der erste in die Augen springende Erfolg ist eine staunenswerte 
Geschmeidigkeit und Gelenkigkeit des Körpers, hat dies eine so 
hervorragende Bedeutung für die Erziehung der Mädchen, für ihre 
spätere Lebens- und Berufsaufgabe, daß dafür soviel Zeit und Geld, 
soviel körperliche und seelische Kraft verschwendet wird? Gewiß 
sollen die Mädchen durch geeignete turnerische Übungen körperlich 
erstarken und gesunden; aber solch akrobatenhafte Fertigkeiten sind 
dazu nicht nötig. Es ist noch eine große Frage, cb nicht manche 
der heftigen und wilden Körperbewegungen eher gesundheitsschädlich 
als gefundsheitsfördernd sind. Jedenfalls wäre es interessant, das 
Urteil eines gewissenhaften Arztes hierüber zu hören. 
vor allem aber fragen wir: Sind diese Fertigkeiten wertvoller 
als das weibliche Schamgefühl, das dabei so gründlich zertreten wird? 
Am wehesten tut es einem, wenn man sieht, wie die kleinen Kinder 
solche Abhörtungskuren ihres natürlichen Schamgefühls mitmachen 
müssen, und auf diese weise das zarte Pflänzchen der Schamhaftigkeit 
in ihnen erstickt wird. Bei der Darstellung „Unser Fox" z. B. 
mußten die Kleinen auf Händen und Füßen laufen und auch so die 
Bühne verlassen. Die Kleine, die die letzte in der Reihe war, wagte 
gar nicht, sich so tief zu bücken, daß ihre Hände wirklich die Erde 
berührten. Ängstlich versuchte sie, ihr Kurzes Röckchen hinten herunter- 
iehen. Beim dritten- und viertenmal wird die Kleine, belehrt durch 
Beispiel und „Schulung", diese zarte Scham überwunden haben. 6lr 
Achtzehnjährige wird sie sich auch nicht mehr scheuen, sich der Volks, 
menge so zu produzieren, wie die älteren Schülerinnen es taten. 
Man denke sich solche Erziehungsmethoden auf immer größere 
Kreise unserer Mädchen angewandt, auf Mädchen aus allen möglichen 
Kinderstuben, aus wer weiß was für Familienverhältnissen, mit wer 
weiß was für Trieben und Anlagen behaftet - kann es einem da 
nicht angst und bange werden? Und das will man wagen in unserer 
Zeit, in der man täglich schreibt und redet von der Entsittlichung/ 
unseres Volkes, von der sittlichen Not, vom Überhandnehmen der 
vergehen gegen Sittlichkeit und Moral, von der Überfüllung der 
Fürsorge- und Strafanstalten! Grenzt es da nicht an Wahnsinn, 
solche Abhärtung, wenn nicht Ertötung des Schamgefühls zu betreiben? 
wenn wir keinen andern Grund zur Ablehnung der Blens 
dorfschen Schulung hätten, so wären uns diese Erwägungen schwer 
wiegend genug dazu. Erziehung zur Schamlosigkeit verträgt sich/ 
nicht mit unseren Erziehungszielen; Schamlosigkeit verträgt sich nicht 
mit echt deutschem Wesen. Mit systematischer Zerstörung des Scham 
gefühls können wir unser armes Volk und Vaterland nicht wieder 
auf eine sittliche höhe bringen. Dazu brauchen wir keine Mädchen 
und Frauen von fabelhafter Gelenkigkeit der Glieder, wohl aber 
solche von feinem und allerfeinstem Zart- und Schamgefühl. 
Blensdorf bezeichnet als Ziel seiner Schule zwar nicht die körper 
lichen Fertigkeiten, sondern er will „Musikerziehung". Auch diese 
Zielangabe kann uns nicht nachsichtiger stimmen. Musikerziehung, 
die kein Ehr- und Schamgefühl im Zögling achtet, kommt für uns 
nicht in Betracht, wir kennen und treiben auch Musikerziehung, 
nur in anderer Art, als Herr Blensdorf es tut. wir erziehen auch 
zur Freude an der Musik. Auf die durch Herrn Blensdorf ver 
mittelte Freude wollen wir wegen der Fragwürdigkeit dieser Freuden 
sehr gerne verzichten. Die musikalisch-rhythmische Schulung nach Art 
und Methode Biensdorfs hat außer der schlechten Behandlung der 
Schamgefühls noch manche Fragwürdigkeiten! Die Mädchen sollen 
lernen, die Musik in Bewegung umsetzen. Die Empfindungen, die 
die Musik in ihren Seelen auslöst, sollen sie durch Körperbewegungen/, 
darstellen! Da drängten sich mir bei den Darbietungen mrnidjej 
Fragen auf: Kann diese Fähigkeit bei der Masse zu finden sein?-. 
Ist die Darstellung der Empfindung da, wo sie erlernt ist, überhaupt 
noch echt, wahr und ursprünglich? Ganz besonders unglaublich er- / 
scheint es, daß zehn, zwanzig und gar dreißig Menschen erstens einmal 
genau die gleichen Empfindungen beim Anhören eines Musikstückes 
haben können und zweitens auch noch Übereinstimmung in der 
körperlichen Darstellung ihres Empfindens haben sollen? So müßte 
es doch sein, wenn, wie behauptet wird, gar kein Drill vorhanden 
also alles echt, wahr und ursprünglich wäre. Aber schon bei den 
einfachen kindlichen Übungen ohne Text, nur nach Klavierbegleitung, 
kann man nicht immer an die Ursprünglichkeit glauben, wenn z. Be 
frei der Darstellung „Das neugierige Kind" alle Kinder ganz genau 
gleichmäßig bei derselben Stelle der musikalischen Begleitung plötzlich 
den Kopf drehen wie jemand, der unerwartet angerufen wird, und 
in ihrem Gesichtsausdruck Spannung oder Erwartung darstellen, so 
sieht das ganz und garnicht „ungedrillt" aus. Daß bei den schwierigen 
Darbietungen unbedingt Echtheit und Ursprünglichkeit vorliegen sollte, 
kann man besonders stark bezweifeln. Auf jeden Fall ist die Gefahr 
groß, daß für viele Mädchen diese Schulung zu einer Schule billiger 
Schauspielerkunst herabsinkt. Das dort erworbene Schauspielertaleni 
kann nicht nur die Erziehung des Mädchens schwer behindern und 
seine Eharakterentwicklung sehr ungünstig beeinflussen; es kann auch'/ 
bei Anwendung in den verschiedensten Lebenslagen für das Mädchen 
selbst wie auch für diejenigen, zu denen das Mädchen irgendwie 
Beziehungen hat, verhängnisvoll werden. 
Unheilvoll kann diese Art musikalisch-rhythmischer Schulung erst 
recht im Reifealter sein. wer weiß, welche überfülle an Phantasie 
und Gefühl gerade in diesem Alter in den Mädchen steckt, und welche 
Reizbarkeit das Nervensystem in diesem Alter aufweist, der muß mir 
schwerster Besorgnis um die seelische und körperliche Gesundheit dei^ 
Mädchen dieser Schulung gegenüberstehen, die der Phantasie unb 
den Affekten in solchem Maße Nahrung bietet. 
Noch einen andern Punkt gibt es für uns zu beachten. Woh^ 
wird es, einzelne musikalisch so fein empfindende Menschen geben^ 
die die Fähigkeit besitzen, die Empfindungen, die die Musik in ihnefi 
wachruft, körperlich darzustellen. Ist es aber wünschenswert, daß
	        
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