Denken anzuregen. Leider sind uns in der Volksschule bei der Er
ziehung zu dieser Selbständigkeit Grenzen gesteckt insofern, als wir
[j,tc Mädchen nur bis zum 14. Jahre haben, bis zu welcher Zeit
!bie physischen Grundlagen für selbständiges Denken, die innere
Umgestaltung des Gehirns und der Ausbau des Nervensystems,
fnoch unvollkommen sind. Berufsschule und Jugendpflege müssen da
weirerbauen.
3. Das mechanische Gedächtnis ist schon bei den Schulanfängern
..in einer weise ausgebildet, über die wir so manchmal staunen.
Denken wir daran, daß polnischsprechende Kinder den deutschen
^Wortlaut der biblischen (beschichten, der Gebete auswendig lernten,
ohne den Sinn des Gelernten zu fassen. 3n der Pubertätszeit ist
idie Zunahme des synthetischen und assoziativen Gedächtnisses zu
beobachten, d. h., die Kinder lernen denkend auswendig. So lernen
Pe rascher, die Treue bei der Wiedergabe läßt allerdings oft zu
wünschen übrig, weil die Konzentrationskraft durch äußere und innere
Einflüsse gerade in dieser Zeit immer wieder geschwächt wird. Phantasie
und Selbstsuggession sind hervorragende innere Einflüsse, die zur
Fälschung des Gedächtnissioffes beitragen, in welch verhängnisvoller
weise zum Schaden der Mitschülerinnen, der Nächsten überhaupt,
haben wir alle schon beobachtet. Die Nechtspflege nimmt Rücksicht
auf die Unzuverlässigkeit des Eedächrmffes beim Auftreten der Kinder
als Zeugen vor Gericht insofern, als Jugendliche unter 16 Jahren
ihre Aussagen nicht unter Erd machen.
4. versuche haben ergeben, daß die Phantasie im pubertäts-
alter nicht so allumfassend ist wie im Kindesalter. Es zeigt sich eine
Beschränkung auf gewisse Gebiete, die bei den einzelnen verschieden
sind, weil sie an das jeweilige Erleben, an die Lektüre, an den
Kinobesuch u. a. anknüpfen. Unsere Mädchen träumen davon, wie
es sein wird, wenn sie einmal groß sind, wenn sie die Freiheit
genießen dürfen, ohne an deren Auskosten durch Schule und Eltern
haus gehindert zu werden. Das viele Neue, das in ihr Leben tritt,
gibt reichlichen Stoff für die Phantasie. Jene. die nicht auf Rosen
gebettet sind, malen sich aus, wie schön es wäre, wenn sie reich
wären, wenn die Eltern nicht in Zwietracht lebten, wenn der Vater
kein Trinker wäre. Auf diese weise schaffen sich viele unserer her
anwachsenden eine Traumwelt, die es ihnen leichter macht, da;
wirkliche oder eingebildete E end ihres Daseins zu ertragen, wir
muffen bei überspannten Hoffnungen an das Mögliche erinnern,
immer wieder auf den eigentlichen Zweck des Lebens hinweisen, um
vor Enttäuschungen, Unzufriedenheit und psiicktvergeffenheii zu be-
wahren. Putzsucht und Vergnügungssucht spielen in der Phantasie
unserer Mädchen eine große Rolle. Davon an anderer Steile mehr.
Um sich wichtig zumachen, werden manchmal Erzählungen erfunden,
in denen selbstverständlich die Träumerin die Hauptr olle spielt. Kleine
wirkliche Erlebnisse werden von der Phantasie zur Unkenntlichkeit
des Tatsächlichen umgestaltet. Es darf nicht behauptet werden, daß
solche Fähchungen bewußt geschehen, v elleicht machen erst Fragen
der Lehrerin das Kind stutzig, cs wird verwirrt, weiß keinen Aus
weg, gesteht vielleicht die Wahrheit. Man darf ihm aber nicht den
Vorwurf der Lüge machen, denn Lügen heißt „wissentlich und
vorsätzlich die Unwahrheit sagen." Manchmal spinnen die Mädchen
den Wirrwarr immer weiter, auch wenn man ihnen zu erkennen
gab, daß ihre Erzählungen nicht glaubhasi scheinen. Solch Fälle
streifen ans Anormale, sind vielleicht schon anormal. Achten wir
auf die Erzählungen der Mädchen genau! Vorkommende Wider
sprüche - sie kommen bei solchen Phantastereien gewöhnlich vor —
müssen schonungslos aufgedeckt werden. Durch geeignete Fragen
führen wir zur Eckentnis der Unglaubwürdigkeit des Erzählten.
Da wird dre Erzählerin — wenn sie einige-maßen normal ist —
doch merken, daß die Lehrerin sich nicht alles „vormachen" läßt,
daß man seiner Phantasie Zügel anlegen muß, wenn man ernst
genommen werden will. Jenen Mädchen, die den Kreis froher Ge
fährtinnen meiden, um ungestörter träumen zu können, müssen wir
besondere Aufmerksamkeit widmen. Unauffällig muß versucht werden,
die^ Ursache des Absonderns zu erforschen. Mit schonender Güte
müssen wir uns mühen, einen solchen kindlichen Sonderling, den
vielleicht schweres Erleben reifer machte und zum Alleinsein drängt,
in den fröhlichen Kreis der anderen zu ziehen.
Zur Vergiftung der Phantasie tragen neben der Umwelt Lektüre
und Kinobesuch bei. viel Schlimmes kann verhütet werden durch
geeignete Überwachung der Lektüre, durch Aufklärung der Eltern,
durch Ausnutzung des Einflusses, den die Lehrerschaft auf das Pro
gramm der Filmvorführungen nehmen kann.
5. Eme merkliche Änderung beobachten wir bei unseren Mädchen
bezüglich der Aufmerksamkeit. Im Kindesalter wird sie durch
Empfindungen, durch anschauliche Vorstellungen gestört. Lin Beispiel:
wir reden von der Heuernte oder vom Schornsteinfeger oder irgend
etwas anderem. Ein Kind meldet sich - wir haben es gar nicht
erwartet, wir nehmen es dran und hören vielleicht: „heute kommt
die Großmutter", oder: „wir haben gestern ein kleines Kind be
kommen." So lenkt die Wirklichkeit die Kleinen ab. Anders ist
es bei unseren Mädchen. Deren Aufmerksamkeit wird durch ent
ferntere Erinnerungsbilder oder durch phan.iasiegsbilde abgelenkt.
Lin Mütchen lacht vor sich hm. Auf unsere Frage kommt die Ant
wort: „Mir siel etwas ein", und wir erfahren werter, daß es eine
vor langer Zeit erlebte komische Situation oder auch ein Phantasie-
erzeugnis sind, die solche Macht über den Gedanken besaßen.
Bei einiger Willensanstrengung können gewöhnlich die älteren
Kinder solche Störungen der Aufmerksamkeit verscheuchen, sie haben
mehr Konzentrationsfähigkeit, wenn nicht besondere krankhafte An
lagen an einer ganz auffallenden Zerstreutheit schuld sind.
Ein besonderes wort sei der Ermüdung gewidmet. Sie macht
sich gerade bei unseren Mädchen auffallend bemerkbar. Die körper
liche Müdigkeit hängt mit der Entwicklung des Leibes zusammen,
die so sehr viele Kräfte verbraucht. Lässige Haltung und große
Arbeitsunlust sind Äußerungen der Ermüdung. Das Gehirn arbeitet
in der Schule, infolgedessen geht — wie jedem arbeitenden Körper
teil — ein größerer Biutstrom dorthin. Der übrige Körper hat
darunter zu leiden, er wird müde, Hände und Füße werden kalt,
während der Kopf heiß ist. Kopsweh, eine ganz eigenartige Unruhe
und Reizbarkeit, Empfindlichkeit und Launenhaftigkeit sind die Folgen
der unnatürlichen Llutverteilung, auch Störungen der Herztätigkeit
treten auf.
Die Ermüdung tritt auch darum bei unseren Mädchen so rasch
ein, weil eine Zweiteilung des Lebensstromes von Natur aus vor
sich geht: Der ganze Körper soll mit Blut versorgt werden zur Auf
rechthaltung des leiblichen und geistigen Lebens, und außerdem
wird noch viel Leben;fast zum Aufbau und Ausbau des Körpers
verbraucht.
Seien wir vorsichtig im Beurteilen müder Kinder, es könnte sonst
leicht als härte wirken. Eine kurze Arbeitspause schafft für einige
Zeit Erleichterung, einzelnen besonders angestrengten Mädchen werden
einige Minuten Aufenthalt in frischer Luft verordnet. Soweit es
sich ohne gesundheitliche Schädigung bei den Kindern und bei uns
ermöglichen läßt, wird bei geöffnetem Fenster unterrichtet. Keine
Gelegenheit darf versäumt werden, um auf die schädlichen Wirkungen
von Nikotin und vor allem von Alkohol auf den menschlichen Gr-
ganismus hinzuweisen.
Nehmen wir auf den ungewöhnlichen Kräfteverbrauch keine
Rücksicht, so können wir schuldig werden an leichterer oder schwerer
Nervenerkrankung der Jugendlichen. Ich will nicht einem willen
losen Sichgchenlassen das Wort reden, wie ich an anderen Stellen
zeigen werde. Aber — seien wir nachsichtig, wenn bei einzelnen
Mädchen an manchen Tagen das Unterrichtsergebnis nicht so ist,
wie wir wünschen müssen, wenn sie sich nur sonst tapfer halten.
Fortsetzung folgt )
MermmgsüLStaujch.
Unsere grundsätzliche Stellungnahme
zum heutigen Mädchenturnen.
Zu den verschiedenen Meinungen, die über den Entwurf der
Richtlinien des Vereins zum Mädchenturnen bereits eingegangen sind,
möchte ich nicht Stellung nehmen, soweit sie Fachliches oder auch
die Fassung der Leitsätze betreffen. Das gebührt in erster Linie
denen, die zur Zeit selbst Turnunterricht erteilen. Indessen scheint
es mir doch als Vereinsvorfitzende notwendig, einige grundsätzliche
Bemerkungen zu der Einsendung von Fräulein Else Zacharias in der
Nummer 39 der Wochenschrift, auf Seite 367 zu machen, da daraus,
wie mir scheint, eine unrichtige Auffassung der Bedeutung dieser Leit
sätze spricht, die leicht in den Reihen unserer Vereinsmitglieder M,ß-
verständniffe und Verwirrung hervorrufen könnte. Zunächst möchte