Full text: Wochenschrift für katholische Lehrerinnen - 37.1924 (37)

Denken anzuregen. Leider sind uns in der Volksschule bei der Er 
ziehung zu dieser Selbständigkeit Grenzen gesteckt insofern, als wir 
[j,tc Mädchen nur bis zum 14. Jahre haben, bis zu welcher Zeit 
!bie physischen Grundlagen für selbständiges Denken, die innere 
Umgestaltung des Gehirns und der Ausbau des Nervensystems, 
fnoch unvollkommen sind. Berufsschule und Jugendpflege müssen da 
weirerbauen. 
3. Das mechanische Gedächtnis ist schon bei den Schulanfängern 
..in einer weise ausgebildet, über die wir so manchmal staunen. 
Denken wir daran, daß polnischsprechende Kinder den deutschen 
^Wortlaut der biblischen (beschichten, der Gebete auswendig lernten, 
ohne den Sinn des Gelernten zu fassen. 3n der Pubertätszeit ist 
idie Zunahme des synthetischen und assoziativen Gedächtnisses zu 
beobachten, d. h., die Kinder lernen denkend auswendig. So lernen 
Pe rascher, die Treue bei der Wiedergabe läßt allerdings oft zu 
wünschen übrig, weil die Konzentrationskraft durch äußere und innere 
Einflüsse gerade in dieser Zeit immer wieder geschwächt wird. Phantasie 
und Selbstsuggession sind hervorragende innere Einflüsse, die zur 
Fälschung des Gedächtnissioffes beitragen, in welch verhängnisvoller 
weise zum Schaden der Mitschülerinnen, der Nächsten überhaupt, 
haben wir alle schon beobachtet. Die Nechtspflege nimmt Rücksicht 
auf die Unzuverlässigkeit des Eedächrmffes beim Auftreten der Kinder 
als Zeugen vor Gericht insofern, als Jugendliche unter 16 Jahren 
ihre Aussagen nicht unter Erd machen. 
4. versuche haben ergeben, daß die Phantasie im pubertäts- 
alter nicht so allumfassend ist wie im Kindesalter. Es zeigt sich eine 
Beschränkung auf gewisse Gebiete, die bei den einzelnen verschieden 
sind, weil sie an das jeweilige Erleben, an die Lektüre, an den 
Kinobesuch u. a. anknüpfen. Unsere Mädchen träumen davon, wie 
es sein wird, wenn sie einmal groß sind, wenn sie die Freiheit 
genießen dürfen, ohne an deren Auskosten durch Schule und Eltern 
haus gehindert zu werden. Das viele Neue, das in ihr Leben tritt, 
gibt reichlichen Stoff für die Phantasie. Jene. die nicht auf Rosen 
gebettet sind, malen sich aus, wie schön es wäre, wenn sie reich 
wären, wenn die Eltern nicht in Zwietracht lebten, wenn der Vater 
kein Trinker wäre. Auf diese weise schaffen sich viele unserer her 
anwachsenden eine Traumwelt, die es ihnen leichter macht, da; 
wirkliche oder eingebildete E end ihres Daseins zu ertragen, wir 
muffen bei überspannten Hoffnungen an das Mögliche erinnern, 
immer wieder auf den eigentlichen Zweck des Lebens hinweisen, um 
vor Enttäuschungen, Unzufriedenheit und psiicktvergeffenheii zu be- 
wahren. Putzsucht und Vergnügungssucht spielen in der Phantasie 
unserer Mädchen eine große Rolle. Davon an anderer Steile mehr. 
Um sich wichtig zumachen, werden manchmal Erzählungen erfunden, 
in denen selbstverständlich die Träumerin die Hauptr olle spielt. Kleine 
wirkliche Erlebnisse werden von der Phantasie zur Unkenntlichkeit 
des Tatsächlichen umgestaltet. Es darf nicht behauptet werden, daß 
solche Fähchungen bewußt geschehen, v elleicht machen erst Fragen 
der Lehrerin das Kind stutzig, cs wird verwirrt, weiß keinen Aus 
weg, gesteht vielleicht die Wahrheit. Man darf ihm aber nicht den 
Vorwurf der Lüge machen, denn Lügen heißt „wissentlich und 
vorsätzlich die Unwahrheit sagen." Manchmal spinnen die Mädchen 
den Wirrwarr immer weiter, auch wenn man ihnen zu erkennen 
gab, daß ihre Erzählungen nicht glaubhasi scheinen. Solch Fälle 
streifen ans Anormale, sind vielleicht schon anormal. Achten wir 
auf die Erzählungen der Mädchen genau! Vorkommende Wider 
sprüche - sie kommen bei solchen Phantastereien gewöhnlich vor — 
müssen schonungslos aufgedeckt werden. Durch geeignete Fragen 
führen wir zur Eckentnis der Unglaubwürdigkeit des Erzählten. 
Da wird dre Erzählerin — wenn sie einige-maßen normal ist — 
doch merken, daß die Lehrerin sich nicht alles „vormachen" läßt, 
daß man seiner Phantasie Zügel anlegen muß, wenn man ernst 
genommen werden will. Jenen Mädchen, die den Kreis froher Ge 
fährtinnen meiden, um ungestörter träumen zu können, müssen wir 
besondere Aufmerksamkeit widmen. Unauffällig muß versucht werden, 
die^ Ursache des Absonderns zu erforschen. Mit schonender Güte 
müssen wir uns mühen, einen solchen kindlichen Sonderling, den 
vielleicht schweres Erleben reifer machte und zum Alleinsein drängt, 
in den fröhlichen Kreis der anderen zu ziehen. 
Zur Vergiftung der Phantasie tragen neben der Umwelt Lektüre 
und Kinobesuch bei. viel Schlimmes kann verhütet werden durch 
geeignete Überwachung der Lektüre, durch Aufklärung der Eltern, 
durch Ausnutzung des Einflusses, den die Lehrerschaft auf das Pro 
gramm der Filmvorführungen nehmen kann. 
5. Eme merkliche Änderung beobachten wir bei unseren Mädchen 
bezüglich der Aufmerksamkeit. Im Kindesalter wird sie durch 
Empfindungen, durch anschauliche Vorstellungen gestört. Lin Beispiel: 
wir reden von der Heuernte oder vom Schornsteinfeger oder irgend 
etwas anderem. Ein Kind meldet sich - wir haben es gar nicht 
erwartet, wir nehmen es dran und hören vielleicht: „heute kommt 
die Großmutter", oder: „wir haben gestern ein kleines Kind be 
kommen." So lenkt die Wirklichkeit die Kleinen ab. Anders ist 
es bei unseren Mädchen. Deren Aufmerksamkeit wird durch ent 
ferntere Erinnerungsbilder oder durch phan.iasiegsbilde abgelenkt. 
Lin Mütchen lacht vor sich hm. Auf unsere Frage kommt die Ant 
wort: „Mir siel etwas ein", und wir erfahren werter, daß es eine 
vor langer Zeit erlebte komische Situation oder auch ein Phantasie- 
erzeugnis sind, die solche Macht über den Gedanken besaßen. 
Bei einiger Willensanstrengung können gewöhnlich die älteren 
Kinder solche Störungen der Aufmerksamkeit verscheuchen, sie haben 
mehr Konzentrationsfähigkeit, wenn nicht besondere krankhafte An 
lagen an einer ganz auffallenden Zerstreutheit schuld sind. 
Ein besonderes wort sei der Ermüdung gewidmet. Sie macht 
sich gerade bei unseren Mädchen auffallend bemerkbar. Die körper 
liche Müdigkeit hängt mit der Entwicklung des Leibes zusammen, 
die so sehr viele Kräfte verbraucht. Lässige Haltung und große 
Arbeitsunlust sind Äußerungen der Ermüdung. Das Gehirn arbeitet 
in der Schule, infolgedessen geht — wie jedem arbeitenden Körper 
teil — ein größerer Biutstrom dorthin. Der übrige Körper hat 
darunter zu leiden, er wird müde, Hände und Füße werden kalt, 
während der Kopf heiß ist. Kopsweh, eine ganz eigenartige Unruhe 
und Reizbarkeit, Empfindlichkeit und Launenhaftigkeit sind die Folgen 
der unnatürlichen Llutverteilung, auch Störungen der Herztätigkeit 
treten auf. 
Die Ermüdung tritt auch darum bei unseren Mädchen so rasch 
ein, weil eine Zweiteilung des Lebensstromes von Natur aus vor 
sich geht: Der ganze Körper soll mit Blut versorgt werden zur Auf 
rechthaltung des leiblichen und geistigen Lebens, und außerdem 
wird noch viel Leben;fast zum Aufbau und Ausbau des Körpers 
verbraucht. 
Seien wir vorsichtig im Beurteilen müder Kinder, es könnte sonst 
leicht als härte wirken. Eine kurze Arbeitspause schafft für einige 
Zeit Erleichterung, einzelnen besonders angestrengten Mädchen werden 
einige Minuten Aufenthalt in frischer Luft verordnet. Soweit es 
sich ohne gesundheitliche Schädigung bei den Kindern und bei uns 
ermöglichen läßt, wird bei geöffnetem Fenster unterrichtet. Keine 
Gelegenheit darf versäumt werden, um auf die schädlichen Wirkungen 
von Nikotin und vor allem von Alkohol auf den menschlichen Gr- 
ganismus hinzuweisen. 
Nehmen wir auf den ungewöhnlichen Kräfteverbrauch keine 
Rücksicht, so können wir schuldig werden an leichterer oder schwerer 
Nervenerkrankung der Jugendlichen. Ich will nicht einem willen 
losen Sichgchenlassen das Wort reden, wie ich an anderen Stellen 
zeigen werde. Aber — seien wir nachsichtig, wenn bei einzelnen 
Mädchen an manchen Tagen das Unterrichtsergebnis nicht so ist, 
wie wir wünschen müssen, wenn sie sich nur sonst tapfer halten. 
Fortsetzung folgt ) 
MermmgsüLStaujch. 
Unsere grundsätzliche Stellungnahme 
zum heutigen Mädchenturnen. 
Zu den verschiedenen Meinungen, die über den Entwurf der 
Richtlinien des Vereins zum Mädchenturnen bereits eingegangen sind, 
möchte ich nicht Stellung nehmen, soweit sie Fachliches oder auch 
die Fassung der Leitsätze betreffen. Das gebührt in erster Linie 
denen, die zur Zeit selbst Turnunterricht erteilen. Indessen scheint 
es mir doch als Vereinsvorfitzende notwendig, einige grundsätzliche 
Bemerkungen zu der Einsendung von Fräulein Else Zacharias in der 
Nummer 39 der Wochenschrift, auf Seite 367 zu machen, da daraus, 
wie mir scheint, eine unrichtige Auffassung der Bedeutung dieser Leit 
sätze spricht, die leicht in den Reihen unserer Vereinsmitglieder M,ß- 
verständniffe und Verwirrung hervorrufen könnte. Zunächst möchte
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.