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Sur Frage der privat- und Maffenirttüre.
(Auf die Anregung in Nr. 10 S. 4L f. find folgende beiden Skizzen
Eingegangen, Die Schriftleitung.)
wie ich die Idee der Ulaffenlektüre in meiner Mädchen-berftaff«
(vierter Jahrgang) zu verwirUlchen suchte.
Meine ersten versuche machte ich mit den „Deutschen Jugend-
heften" (Auer, vonauwörth). Sie dienen ganz besonders zur Ver
tiefung des Sachunterrichtes. Bei Behandlung der entsprechenden
Stoffe lasen wir:
1. Der lange Philipp, von Spillmann (Zeitalter Fried, wilh. I.).
2. Fünf Kriegsnovellen, v. Nabor (Freiheitskriege).
3. von den Apenninen zu den Anden (o. Ldm. de Amicis).
4. Sam Wiebe, eine halliggeschichle (o. Nlügge).
Die Sachen waren von mir angeschafft. Die Kinder hatten jedes
oder zu zweien ein Buch. Nr I und 2 versetzten uns mitten in
die damaligen Zeiten. Nr. I war besonders fesselnd. Nr. 4 gab
uns ein Bild von den Marschen und den halligen mit ihren heimat
liebenden Bewohnern. Manche Niederschrift konzentrierte unsere Auf-
merksamkeit aus etwas Bestimmtes, z. B. in Nr. 4. „vie warf
Peter Jansens. — Auf dem Deiche' — Eine Schreckensnacht" usw.
Mit Begeisterung lernten wir das Gedicht: Der Halligmatrose. —
Es waren noch keine Großtaten — es war der Anfang.
Webers „Goliath" und den größten Teil aus „Vreizehnlinden"
las ich gelegentlich vor, ersteres bei der Behandlung Schweden-
Norwegens, letzteres bei der Kulturgeschichte der Karolinger. Da
lernten wir, was Kunst ist, wenn wir den klangvollen Versen lauschen
durften. Mit Bewunderung blickten wir empor zu den großen,
edlen Gestalten beider Dichtungen. Voll und ganz stimme ich der
Verfasserin des Artikels in Nr. 10 der Wochenschrift bei, wenn sie
die beiden Bücher für unsere Mädchen so sehr empfiehlt. Auch ich
möchte wünschen, daß man eine verbilligte Ausgabe in Händen
hätte, was ja leider noch nicht möglich ist? Weber ist meinen
Mädchen ein gar lieber Freund geworden, und noch heute ver
sichern mir ehemalige Schülerinnen: das schönste Buch ist für mich
Webers Goliath. Einige haben es sich fchenken"laffen. Und wie
wacker war man im Unterricht dabei, wenn es hieß: gleich lesen wir
noch etwas! Den „Goliath" hörten wir am liebsten jedes Jahr.
In diesem Jahre haben wir nun neben dem Lesebuche und außer
einigen der obengenannten kleinen Sachen drei größere Ganzbücher
gelesen: „Siegfried, der Nibelungenheld" (Schaffst, bl. 28) „Berg-
kristall" und „Die Jungfrau von Orleans" (Deutsches Gut). Um Ab
wechselung zu haben in der Klassenlektüre haben sich mehrere
interessierte Kolleginnen zusammengeschloffen und je eine oder zwei
Anschaffungen gemacht. So haben wir Auslauschmöglichkeiten, wir
wählen die Bücher aus den obengenannten Sammlungen, je 40 Stück.
Das erstgenannte Buch lasen wir diesen Sommer. Es ist eine
gute Wiedergabe der Uibelungendichtung in erzählender Form, die
mir für meine Klasie wegen der jüngeren Jahrgänge vorteilhafter
schien. Schöne poetische Stellen las ich vor. Zwölf hübsche holz.
schnitte zieren das Buch. Bei passender Gelegenheit hatte ich schon
vorbereitend hingewiesen. In einer Lesestunde verteilte ich meine
40 Exemplare. Für den folgenden Tag mußte jede ihr Buch ein-
schlagen und das Papier mit ihrem Namen versehen haben. Jede
war für ihr Buch verantwortlich, und nach dem Gebrauche konnte
ich alle Bücher unbeschädigt einsammeln. So habe ich es bei den
folgenden Büchern auch gehandhabt. (Erziehung zur Verantwortlich
keit und Ordnungsliebe.) Zunäctst mußten wir das Gesicht unseres
Buches kennen leinen. Das hübsche Titelbild erinnerte uns an das
bekannte Lied: „Jung Siegfried". Und nun durften wir fragen.
Wie ich erwartet, kam zuerst: was sind Nibelungen? Daß das
„N belungenlied" ursprünglich hieß „Der Nibelungen Leid oder Not",
versetzte uns in neues Staunen. Die weitere Frage galt dem Ver
fasser. Das war mir sehr erwünscht, denn so kamen wir zu dem
begriff „Volksepos". Dann las ich die einleitende Strophe in dem
bekannten mittelhochdeutschen Texte vor. Treffender ist wohl kaum
je auf den Inhalt eines Werkes hingewiesen worden als in diesen
' vie Volksausgabe von Vreizehnlinden kostet z. 3t. 2.50 Jf, von
Goliath 1,20 Jt. Der Verlag Ferdinand Schöningh ist bereit, bei klassen-
welser Einführung größere Erleichterungen zu yewäd'en, und bittet, sich
dieferhald direkt mit ihm in Verbindung zu setzen. 3a beiden Dichtungen
sind im gleichen Verlage Lrläuterungsjchriften für die Hand der Lehrerin
(60 bzw. 50 fy) erschienen.
Versen, wie interesiant war nun die Lektüre; Siegfrieds Helden
taten und sein tragischer Tod. die damaligen Litten und Gebräuche
fesselten uns mächtig. Der 2. Teil, „Kriemhilds Rache", war uns
beinahe zu schaurig und düster. Zur Vertiefung erfolgten an paffender
Stelle und besonders am Schluß schriftliche Arbeiten.
vor Weihnachten lasen wir „vergkristall". Da hatten meine
Leser manches auszusetzen. Die endlosen Satzgebilde, die langen Be
schreibungen konnten nur schwer das Intereffe gewinnen. Beffer
wurde es, als man mit Spannung das Schicksal der beiden kleinen
Helden in der Lhristnacht verfolgte. Meine Meinung ist auch die,
man hätte da ohne Schaden kürzen können, wie es in der Schaff-
steinschen Ausgabe tatsächlich geschehen ist. Vie Ligenart des Schrift-
stellers wäre trotzdem zur Geltung gekommen. - Das Schönste kam
nach Weihnachten: „vie Jungfrau von Orleans". Ja, unser Schiller
hat uns vollständig zur Begeisterung hingeriffen durch die Reinheit,
durch die Kraft und Größe, die aus der Dichtung spricht. Der
wuchtige V. Akt wurde mit verteilten Rollen auswendig gelernt und
aufgeführt. Die Kinder hielten diesen Akt für den schönsten. Vas
Verständnis des Stückes hat uns wenig Schwierigkeiten gemocht,
wenngleich wir gewiß nicht in den Sinn eines jeden Gedankens ein
gedrungen sind. Ist m. E. auch nicht notwendig. Etwas schwer
war der III. Akt mit den vielen seelischen Vorgängen. Da dar
Drama sich nur als eine Haupthandlung abspielt, machte es uns
am Schluß große Freude, den klaren Aufbau herauszuarbeiten,
von den Monologen lernten wir Teile auswendig. Manche freie
Arbeit schloß sich auch hier an. Alles in allem, es waren Stunden,
in denen sich Kinder und Lehrerinnen gegenseitig erfreuten.
vie Behandlung eines Ganzbuches erfordert eine gründliche Vor
bereitung. ein Sichhineinversenken, ein hineinarbeiten mit der Frage:
„was hole ich für meine Kinder heraus?" Kommentare fehlen in
der Regel. Bequem mag ein solcher weg erst nicht sein; richtig
angefangen ist ein solcher Deutschunterricht aber zweifellos erziehlich
und unterrichtlich außerordentlich wertvoll. Mit Mut ans Werk,
wer erzählt noch von seinen Erfahrungen? Mögen wir so ver
suchen, p. Herders Wort zu verwirklichen: „Die Bücher sind da,
damit du immer beffer lesen lernst, in ihnen, in dir selber, in den
anderen." L. Gudenkauf, wildeshausen i. G.
„Sroßmutterr Jugrndland"
von Helene Pages, als Stoff für die Klaffenleklüre im sechsten Schuljahr.
wir lasen „Großmutters Jugendland" in der Klaffe. Leider
hatten wir nur ein Exemplar des Buches. Also mußte immer vor-
gelesen werden. Das sinngemäße und schöne vorlesen des noch
unbekannten Textes hatte aber bei einzelnen Kindern noch seine
Schwierigkeiten. Darum bekam eines das Buch bis zum nächsten
Tage nach Hause und mußte das nächste Kapitel zum guten vor-
lesen vorbereiten. Die kleine Schar war sehr kritisch und fand an
der Art des Vorlesens oft etwas auszusetzen, wer das am nach
drücklichsten tat, bekam das nächste Kapitel auf.
Zunächst lasen wir das ganze Buch, ohne den Text zu „be-
handeln". Nur in unserer Gegend ungebräuchliche Ausdrücke (z. v.
die Betten sind abgeschlagen, ein Baumstück usw.) wurden erklärt
und die im Buch genannten Gegenden auf der Karte aufgesucht.
So wurde dem Drange zu wiffen, „wie es weiter geht", Rechnung
getragen. Dann ließ ich den ganzen Inhalt erzählen, und nun
zeigte sich, wie manches vergeffen oder oberflächlich und deshalb oft
falsch aufgefaßt worden war. So ergab sich die Notwendigkeit, das
wiffen nachzuprüfen und zu berichtigen. Die meisten hatten den
Wunsch, das Buch noch einmal still für sich zu lesen. Sie erhielten
es der Reihe nach geborgt. Die Klaffe stellte ihnen aber zugleich
eine Aufgabe, die in der Stunde nicht zur vollen Zufriedenheit hatte
gelöst werden können. So war z. B. die Frage aufgestellt worden,
was heute anders sei als damals, z. B. die Kleidung der Kinder
(aus den Bildern ersichtlich), wie die Kinder lesen lernten, das
Spinnen usw. Das eine Kind hatte also in diesem Sinne aller
herauszusuchen, was im Laufe der Zeit eine Änderung erfahren
hatte. Streiften wir so die Kulturgeschichte, so beachteten wir auch
die Erdkunde: Rhein, Lahn und Westerwald. Wort und Bild gaben
eine möglichst genaue Anschauung der Gegend. Vas wichtigste aber
war die erziehliche Auswirkung. Dabei konnte ich stets ein Blitz-
behagen der Kinder bemerken, wenn die Frage auftauchte: was