135
2.
Ueber die Benutzung und Ausbildung des Gedächtniſſes
in der Volksſchule. Vom Rector Hupe.
Unter den Vorwürfen, welhe dem ältern Schulweſen noch in
der leßten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gemacht wurden, hört
man keinen häufiger, als den, daß die damaligen Lehrer ſich ein-
ſeitig nur an die Erinnerungskraft gewendet, und ohne alle Be-
rüdſichtigung der Natur des kindlichen Geiſtes, oder der formell
bildenden Kraft, die in den einzelnen Unterrichtsgegenſtänden liege,
das Gedächtniß der Schüler mit einer Maſſe meiſt todten Wiſ:
ſens angefüllt haben; wobei ſie denn im Gefühl der Unzulänglich-
keit ihrer Methoden ihre Zuflucht vorzüglih zu den hölzernen
Lehrmitteln zu nehmen genöthigt geweſen wären. . Von dieſem IJIrr-
wege ſcheint man in unſern Tagen allerdings ganz zurü&gekom-
men zu ſein... Man findet jeßt Schulen, wo das unedle und un-
tergeordnete Vermögen des Gedächtniſſes faſt gar nicht berüFſichtigt
und kaum noh unter die zu bildenden Geiſteskräfte gerechnet wird.
Da ſollen ſelbſt viejenigen Dinge, die ihrer Natur nach dem Gedächt-
niſſe wollen eingeprägt werden, durc< zerlegende Geſpräche und aller-
lei Erläuterungen ganz verſtande8mäßig eingeübt werden; da gilt es
ſogar im Sprachunterrichte für eine Tyrannei, Vokabeln beſonders
lernen zu laſſen, welche ſich ja nebenher hei dem Üeberſeßen und
Peben von ſelbſt einſtellen müßten, und der Lehrer wird für einen
ſteifen Pedanten gehalten, der die Wahrheit auswendig lernen
laſſe, wenn er darauf bringt, daß Mancherlei auswendig gelernt
und zwar ſo gelernt werde, daß es die Kinder genau und. wört«
lich wiedergeben können. Ja man kann es ſogar nicht ſelten hö-
ren, wie die gebildete Vernunft der Schüler an dem göttlichen
Worte beſſert, indem ſie die wenigen, bibliſchen Sprüche, die man
etwa doh für zu wiſſen nüßlic erachtet, nicht in den bibliſchen
Worten wiedergeben, ſondern nur dem vermeinten Sinne nah, in
ihren eigenen oft ſehr modernen Ausdrü&ken; wobei man denn
freilich manchmal an das Wort erinnert wird, welches Bahrdt bei
( 10* ) u