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Göthe fagt: „„So ſpräche ich, wenn ich Chriſtus wäre.“ Dieſe
gänzliche Vernachläſſigung des Gedächtniſſes dürfte aber leicht ein
noch größerer Fehler ſein, als wenn man daſſelbe allzuſehr her-
vorhebt, und als den Träger alles Wiſſens und aller Bildung be-
trachtet. Wir wollen uns zur Erweiſung der Wahrheit dieſes
Saßes gar nicht auf die Erfahrung berufen, wie empfindlich ſich
vft in dem ſpäteren Leben die in der Jugend verabſäumte AUS«-
bildung des Gedächtniſſes rächt, wir wollen auch den Gedanken
nicht als unbeſtreitbar hinſtellen, der nach der gewöhnlichen Aus-
legung in den Worten liegen ſoll: „tantum s8eimus, quantum me-
moria tenemus," weil wir in der That nicht Alles wiſſen, was
- das Gedähtniß aufbewahrt; wir behaupten nur, daß eine gründ
lihe Ausbildung des ganzen Menſc<hen, oder irgend eines andern
geiſtigen Vermögens deſſelben gar nicht möglich ſei, ohne daß zu-
vor und daneben auch das Gedächtniß geübt werde. Denn in
Wahrheit, wie ſoll wohl der Verſtand und die Vernunft geübt
werden, oder, was doc< no< wichtiger iſt, ſich ſelber weiter ühen,
wenn ihnen nict das Gedächtniß ſtets bereitwillig den Kebungs-
ſtoff, die zu der Begriffsbildung nöthigen Vorſtellungen, die zu
der Schlußbildung nöthigen Begriffe, und die für alle höhere Thä-
tigkeit des Geiſtes erforderlichen Gedankenreihen darbietet? Und
ſo dann, giebt es nicht eine Menge von gewichtigen Wahrheiten
und Ausſprüchen, die nur in ihren urſprünglichen Worten richtig
aufgefaßt werden können, und an denen wenigſtens Schüler den
AusdruF nicht ändern können, ohne zugleich) denr Gedanken zu
ſchaden und in Gefahr ſchiefer Auffaſſung zu gerathen? --- Doh
wir wollen uns nicht weiter bemühen, das durch Gründe darzu-
th, was die Erfahrung ſchon deutlich herausgeſtellt hat, und
tu. 117) zu Tage legt. Wer die Gelegenheit oder auch das Un-
glüG gehabt hat, in Schulen zu unterrichten, wo die oben be-
zeichnets einſeitige Verſtandesrichtung vorherrſc<t, der wird ſich
leicht überzeugt haben, wie ſchwankend und unzuverläſſig das Wiſ-
ſen ſo gebildeter Schüler iſt, wie gleichgültig ſie ſich gegen Worte
zeigen, die ſie ja leicht ſelbſt bilden können, und wie wenig ihnen
auf Vermengung und Verwechſclung der verſchiedenartigſten Wör-